Regie:Fünf Kontinente und ein Lebensgefühl

Sophie Becker, 2019

Sophie Becker studierte an der Bayerischen Theaterakademie, war Dramaturgin in Aachen, an der Semperoper und der Bayerischen Staatsoper und arbeitet seit 2008 für die Festivals „Dance“ und eben „Spielart“.

(Foto: Catherina Hess)

Die künstlerische Leiterin Sophie Becker spricht über den internationalen Nachwuchs und das globale Arbeiten der Künstler

Interview von Egbert Tholl

SZ: Frau Becker, "Spielart" endet in diesem Jahr mit dem "New Frequencies" -Wochenende, einem Festival im Festival mit 17 Produktionen. Was ist das?

Sophie Becker: Auf meinen Reisen bin ich immer wieder Künstlerinnen und Künstlern begegnet, die noch relativ am Anfang stehen, die ich interessant fand und von denen ich glaube, dass sie noch einen geschützten Rahmen brauchen, man sie also nicht im Hauptprogramm dem Publikum präsentieren sollte, sondern in einer eigenen Zusammenschau. Es sind teilweise sehr kurze Stücke - das kürzeste dauert 15 Minuten. Außerdem schaffen wir dadurch die Möglichkeit, dass die Künstler untereinander ins Gespräch kommen. Manche von ihnen touren bereits, andere, wie Ayu Permata Sari aus Indonesien, treten zum ersten Mal bei einem europäischen Festival auf.

Das heißt, die meisten sind jung?

Ja.

Und internationaler Nachwuchs?

Das kann man so sagen. Wobei dieser Nachwuchs bereits sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat. Von einem der jungen Künstler, Abishek Thapar aus dem Punjab, zeigen wir die Abschlussarbeit, die aber mittlerweile schon 20 Mal getourt ist. Einige Arbeiten sind wirklich Entdeckungen, so schwer ich mich mit diesem Begriff tue. Wieder andere Künstler traten bislang als Darsteller auf und zeigen nun zum ersten Mal etwas in Eigenregie.

Die Künstler kommen aus Afrika, Asien, Südamerika, Australien, Europa. Kann man da Gemeinsamkeiten feststellen?

Ich würde sagen, dass die Arbeiten ein vergleichbares Lebensgefühl teilen, und dieses ist bestimmt durch die Frage, wie lokal man verbunden ist und wie global man agiert. Um noch einmal Ayu Permata Sari zu nehmen: Die ist praktizierende Muslima, aufgewachsen noch dazu im ländlichen Indonesien, und macht dann eine Performance, in der sie sich mit der Nachtclub- und Vergnügungskultur Yogyakartas auseinandersetzt. Viele der Künstler leben oder studieren in anderen, divergenten Kontexten. Rodrigo Batista beispielsweise ist Brasilianer, war in seiner Heimat politisch sehr aktiv, erhielt deswegen als Lehrer Berufsverbot und lebt jetzt in Amsterdam im Exil. Bei der Palästinenserin Farah Barqawi können wir in dem Sinne gar keinen Herkunftsort nennen. Noch bei keiner "Spielart"-Ausgabe war die örtliche Zuordnung der teilnehmenden Künstler so komplex wie bei dieser. Bei vielen könnten wir vier, fünf verschiedene Orte angeben, wo sie leben und arbeiten.

Das gilt fürs Hauptprogramm vermutlich ähnlich?

Ja, zum Beispiel bei Nástio Mosquito, der in Luanda geboren wurde, in Lissabon aufwuchs, heute in Gent lebt und sich aus nachvollziehbaren Gründen dem Label "angolanischer Künstler" verweigert. Es gibt aber auch die gegenläufige Bewegung: Faustin Linyekula beschreibt diese sehr deutlich und gehört mit seinen "Studios Kabako" zu den wichtigsten Arbeitgebern im Ost-Kongo, Sello Pesa organisiert schon seit Jahrzehnten ein Festival im öffentlichen Raum Johannesburgs, Panaibra Canda hat in Maputo ein Kulturzentrum gegründet, das eine Mischung aus "art space", Internetcafé und Bar ist und darüber hinaus Kurse über die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes für die Bevölkerung anbietet.

Auch das Hauptprogramm mit seinen mehr als 30 Produktionen ist auf Anhieb für den Zuschauer nicht ganz leicht in den Griff zu kriegen.

Na ja, es gibt ganz klar die "Klassiker" wie Milo Rau, Forced Entertainment oder Natur Theatre of Oklahoma. Dazu kommen relativ viele Künstler der mittleren Generation, die schon bei vorangegangenen "Spielart"-Ausgaben dabei waren, wie Laila Soliman, Geumhyung Jeong oder Gods Entertainment. Tania El Khoury und Julian Hetzel waren bei uns vor Jahren in einem Stipendiatenprogramm und sind seitdem regelmäßige Gäste. Wir hatten schon überlegt, einen Programmschwerpunkt "alte Bekannte" zu nennen ...

Und inhaltliche Ballungen?

Es gibt eine kleine Verdichtung, die sich mit Ritualen auseinander setzt. Hier stellen sich zahlreiche Fragen des internationalen Theaters - nach lokaler Verwurzelung und ihrer Übertragbarkeit, nach der Möglichkeit des Verstehens, nach der Rolle des Zuschauers - nochmal mit einer besonderen Dringlichkeit. Dazu gehören Arbeiten aus Afrika, aber auch eine der Portugiesin Sofia Dinger. Dazu kommen inhaltliche Linien. In vielen Stücken wird die persönliche Erfahrung zur gesellschaftlichen Analyse, wie etwa bei Boris Nikitin und dessen extrem berührenden Text über das Sterben seines Vaters.

Nikitin arbeitet unter anderem am Staatstheater Nürnberg, Milo Rau ist Intendant in Gent. Wird die Grenze zwischen Stadttheatern und freier Szene noch durchlässiger, als sie ohnehin schon ist?

Zunächst arbeiten Rau und Nikitin völlig unterschiedlich. Aber prinzipiell glaube ich, dass weiterhin viele Impulse aus der internationalen freien Szene in die Stadt- und Staatstheater gelangen. Ob dies zunimmt, finde ich schwer zu sagen, weil eben die Impulse so unterschiedlich sind und jedes Haus anders reagiert.

Im Hauptprogramm trifft, extrem vereinfacht gesagt, Afrika auf Europa. Auf dem einen Kontinent existieren Stadttheater, auf dem anderen kaum. Merkt man das?

Natürlich merkt man das, allerdings nimmt das deutsche Stadttheater ja auch innerhalb Europas eine Sonderstellung ein. Auf dem afrikanischen Kontinent sind die Bedingungen anders, dort entsteht Kunst zum Beispiel mit Unterstützung der Privatwirtschaft, von Stiftungen oder der Universitäten.

Dabei verblüfft es dennoch, wie viel es in Afrika gibt.

Es gibt von Sambia bis Simbabwe Performing-Arts-Center, viele davon werden von jungen Frauen geleitet. Es gibt sehr viele kreative Lösungen, wie man an Geld für künstlerische Produktionen kommt. Was es nicht gibt, ist die europäische Idee einer "tourfähigen" Produktion, die nach der Premiere zwangsläufig "fertig" ist, von der ein Video hergestellt wird, das gemeinsam mit dem Budget und einer Aufstellung der technischen Anforderungen "verkauft" wird. Viel mehr entscheidet man sich als Programmmacher für einen Künstler, weniger für eine bestimmte Produktion, die dann eh ganz anders aussehen kann, wenn sie nach Europa kommt.

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