"Reflektor" von Arcade Fire:Völlig entfesselt

Arcade Fire, Win Butler im Konzert

Win Butler von Arcade Fire bei einem Konzert in Bilbao im Juli 2013.

(Foto: dpa)

Arcade Fire zu hören, das ist oft, als ob einem sieben Leute gleichzeitig ins Gesicht schreien. Nach monatelanger Online-Nervtöter-Kampagne erscheint nun endlich die neue Platte "Reflektor". Und die Lieblings-Crew der Gin-Tonic-Besteller hebt ab in einen neuen musikalischen Kosmos.

Von Joachim Hentschel

Eine Band wie Arcade Fire - das ist immerhin die dekorierte Oberschicht des Indierock, eine Stallburschentruppe aus Kanada, die Lieblingscrew aller Late-Night-Talker, Literatur-Jonathans und Gin-Tonic-Besteller - wenn die, sagen wir, auf einmal Tanzmusik spielte . . . ganz ehrlich, tanzt dann wer? Also, so richtig?

Wiegen im Takt zählt hier nicht. Das machen 20.000 Leute in Madrid, Brooklyn oder Scheeßel ja auch dann automatisch, wenn Arcade Fire ihre alten Donnerstakkatos hämmern, ihre riesigen, gefiedelten Seemannslieder, Choräle wie "My Body Is A Cage", in dem es heißt: "Mein Körper ist ein Gefängnisgitter, das mich davon abhält, mit meiner Liebsten zu tanzen."

Dieses Tanzen ist gemeint, für das in den 70er-Jahren wohl in New Yorker oder Münchener Geheimlabors der Discobeat erfunden wurde, den man seither als akustisches Signal kapiert. Mit dem das Duo Daft Punk noch den Sommer 2013 im Alleingang bestreiten konnte, den sich Rockbands schon ausgeliehen haben, um auch mal einen Tanzsong zu machen, zu dem dann aber auch niemand getanzt hat.

Es ist eher ein career move als ein Hüftschwung, und Arcade Fire haben das nun ebenso gemacht. In den Videos zu den neuen Songs "Reflektor" und "Here Comes The Night Time" rollen sie Discokugeln durch die nächtliche Einöde und treten im Club Salsathèque in ihrer Heimatstadt Montreal auf. Nicht mehr in Zimmermannsschwarz, sondern in weißen Anzügen wie John Travolta, damit auch der Dümmste merkt, was jetzt hier gespielt wird. Der coole New Yorker Neo-Disco-Produzent James Murphy hat geleistet, was man erwartet hat. Aber eben nicht nur das.

Das Album heißt gleichfalls "Reflektor", ihr viertes, eine Doppel-CD. Ein Epos, eine elaborierte Spacerock-Oper, die nach einer monatelangen Online-Nervtöter-Kampagne endlich erscheint, und die man doch keinesfalls auf die Tanzelemente reduzieren darf - dazu passiert einfach viel zu viel Neues, Verwirrendes in den 13 langen Stücken. Am Discobeat kann man jedoch am besten festmachen, was sie tun, der oft zerknirscht wirkende Bandleader Win Butler und seine sechs Gesellen, weiblich und männlich: Sie bewegen sich noch weiter weg vom kompakten, verbal getriebenen Song, der in dem Sprengel des Indierock, dem man sie seit ihrer Anfangszeit vor zehn Jahren zurechnete, ja heute noch als Währung gilt. Hin zu einer großen, komplex geschichteten, anti-hierarchischen Musik. Die alle Spuren verwischt, anhand derer man sie zurückverfolgen könnte.

Rundflug mit Panoramablick auf die Erde

Als sie 2011 für ihre letzte Platte "The Suburbs" völlig überraschend den Grammy bekamen, dabei Eminem, Lady Gaga und Katy Perry besiegten, gab es höhnische Artikel in einigen Blogs: Arcade Fire - nie gehört, was ist das überhaupt? Das übersehen viele, die ihnen auch schon Größenwahn unterstellt haben, nachdem die Band aus den Clubs in die Konzertarenen umziehen musste: Sie hat noch nie auf das leicht Identifizierbare, die typischen Features des Pop gesetzt - nicht, dass daran etwas Schlechtes wäre -, sie ist trotz Butlers Charisma immer betont als Kollektiv aufgetreten.

Arcade Fire zu hören, das ist oft, als ob einem sieben Leute gleichzeitig ins Gesicht schreien, und wo früher zumindest noch die Klangfarben des Folk herauszuspüren waren, ist auf "Reflektor" nun alles völlig entfesselt: Plateaus aus elektronischem Sound, Orientalisches, Lateinamerikanisches, Rhythmus, reines Geräusch. Nicht im Sinne virtuoser Hakenschläge, sondern verzahnt und geschickt überlagert. Fälschungssichere, nicht-gläserne Musik. Natürlich sind das noch Songs, aber wer um Himmels Willen könnte sie covern? Und alle, die bei Arcade Fire schon immer auch etwas Sakrales herausgehört haben, dürfen sich hier bestätigt fühlen: "Supersymmetry", das letzte Stück, klingt wie ein entspannter, astraler Rundflug mit Panoramablick auf die Erde.

Falls jemand findet, das klinge wahnsinnig anstrengend: Ja, ist es auch. Ans Herz wachsen wird einem diese künstlerisch nachhaltige Platte nicht. Aber da hängt ja auch schon genug.

Wenn Sie diese Songs nicht hören können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: