Essays von Jan Philipp Reemtsma:"Die Menschen sterben und sind nicht glücklich"

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Jan Philipp Reemtsma gratuliert dem Dichter Robert Gernhardt. (Foto: dpa/dpa)

Jan Philipp Reemtsma schreibt über Gewalt als attraktive Lebensform und weist viele Angebote zu ihrer Erklärung zurück. Seine klugen Essays stoßen den Leser auf den Grund der Geschichte.

Von Thomas Steinfeld

Den letzten Essay in dieser Sammlung widmet Jan Philipp Reemtsma der Geschichte. Es geht um Johann Gottfried Herder, um dessen Schrift "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" aus dem Jahr 1774 sowie um die im späten 18. Jahrhundert neue Frage, ob Geschichte als solche einen Sinn habe.

Der Ton des Aufsatzes ist umgänglich, über längere Strecken gleicht er einem Gespräch mit einem vertrauten Autor, und manchmal freut sich der Verfasser des Essays über Gemeinsamkeiten: Er findet sie zum Beispiel in der Überzeugung, es sei ein Fehler, die eigene Gegenwart zu überschätzen. "Das ist für Herder das intellektuelle Laster seiner Zeit, die sich 'aufgeklärt' nennt, sein Repräsentant ist Voltaire."

Einen Sinn der Geschichte aber will Herder am Ende dennoch behalten, vielleicht, weil der Prediger weiß, dass er seine Gemeinde nicht ohne Trost aus der Kirche entlassen kann. An diesem Punkt aber hört die Umgänglichkeit auf, und es wird ein Satz von Albert Camus zitiert: "Die Menschen sterben und sind nicht glücklich."

Wer zu verhandeln beginnt, tut es aus relativ schwacher Position

Dreizehn Essays enthält der Band mit dem Titel "Helden und andere Probleme". Der Satz könnte ihnen als gemeinsames Motto dienen. Das gilt vor allem für die vier Aufsätze, die sich der Gewalt zuwenden; historisch, wo es um die Gewalt in der "Ilias" geht, systematisch, wenn die Gewalt als der "blinde Fleck der Moderne" oder als "attraktive Lebensform" betrachtet wird.

Einen "blinden Fleck" stellt die Gewalt dar, weil die Vorstellung, die Menschheit gehe immer weniger gewalttätigen Zeiten entgegen, ebenso beliebt wie falsch ist. Und "attraktiv" ist die Gewalt insofern, als nicht wenige Gewalttäter ihre Taten offenbar genießen: Sie inszenieren sich als Täter, sie streben nach einer Grandiosität, die ihnen das Verfügen über andere Menschen und deren Körper verschafft.

Die vielen Angebote zur Erklärung der Gewalt, die es in einer bürgerlichen Gesellschaft gibt, die Hinweise auf soziologische, pädagogische oder psychologische "Hinterwelten", in denen eine Untat etwa als verunglückter "Schrei nach Liebe" erklärt werden soll, weist Jan Philipp Reemtsma von sich: "Lassen Sie uns banal miteinander werden."

Es gibt Gründe, die Gewalt nüchtern zu betrachten, und manche davon gehen dem moralischen (im Sinne von: mit gutem Gewissen zuschlagen) oder ästhetischen Genuss der Gewalt noch voraus. Dem Besitzer einer Sache, die man selbst begehrt, einen Knüppel über den Kopf zu ziehen, ist die naheliegende und effiziente Lösung eines Konflikts. Wer zu verhandeln, gar zu argumentieren beginnt, tut es aus einer Position der relativen Schwäche heraus. Sie mag in rechtsstaatlichen Verhältnissen zur Grundform menschlichen Betragens geworden sein und als solche nicht mehr reflektiert werden. Ihre Attraktivität hat die Gewalt aber nicht verloren, auch für den scheinbar zivilisierten Teil der Menschheit nicht.

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Von Thomas Steinfeld

Selbst Tiere weichen der Gewalt aus

Man bemerkt diese Anziehungskraft spätestens dann, wenn Teile des Volkes mit Vertretern der Staatsgewalt vom großen Aufräumen träumen. Oder wenn außerordentliche Gewalttäter bewundert werden, Menschen also, die, wie es in einem Essay Reemtsmas über den "Held, das Ich und das Wir" heißt, den "Fortschritt des Gemeinwesens" durch die Tat verbürgen sollen - was die Helden, insbesondere die klassischen (einschließlich ihrer Wiedergänger im amerikanischen Westen), keineswegs um der friedlichen Bürger willen tun, sondern vor allem ihres "Ruhmes" wegen.

Auch Gegengewalt ist immer beides: Gewalt und Abwehr von Gewalt, Verstärkung von Gewalt im Versuch, ihr die Kraft zu nehmen.

Ein Einwand wäre vorzubringen: Gewalt ist nicht nur, aller Hilflosigkeit der "Kompensations- und Trostwissenschaften" zum Trotz, etwas "Offensichtliches", dem man mit vermeintlich hintergründigen Erklärungen nur unzureichend beikommt. Sie ist auch das Gefährliche, für die Opfer sowieso, aber in gewissem Maß auch für die Täter: Selbst Tiere weichen der Gewalt aus, zumal dann, wenn das damit verbundene Risiko schlecht einzuschätzen ist. Und es soll menschliche Gewalttäter geben, die bedenken, welche Folgen ihre Taten für sie selbst nach sich ziehen könnten. Das macht die Taten nicht weniger furchtbar, auch wenn sich die damit verbundenen Fragezeichen - deren Spur Jan Philipp Reemtsma in einem Essay über Walter Kempowski nachgeht - durch das Wissen um eine Reflektiertheit in der Gewalt vermehren. Ein Trost liegt in diesem Wissen ohnehin nicht.

Jan Philipp Reemtsma schreibt Essays, an deren Ende der Leser meint, auf den harten Grund der Geschichte gestoßen zu werden. So ist es in einem Aufsatz über das Verhältnis zwischen dem Strafrecht und dem "Anspruch des Opfers auf Beachtung": Ein Gerichtsverfahren könne nicht heilen, erklärt der Autor, im Urteil liege keine Vergeltung, und das Begehren nach "Gerechtigkeit" führe nur in ein "diffuses Etwas, zusammengehalten durch starke Effekte".

In einem Essay über den Schmerz erzählt Reemtsma noch einmal die Geschichte des Philoktet und schließt, es gebe kein Bündnis "zwischen denen, deren seelische Gegenwart der Schmerz ist, und den anderen, die das Glück haben, dass es ihnen anders geht". Und über Felix Dahn, den Autor des Romans "Ein Kampf um Rom", schreibt er, das Sterben habe ihm nicht gelegen. Stattdessen habe er sich "Zivilistenträumen" hingegeben: "Sie polieren nicht das Tötungsgeschäft des Krieges auf, sondern verschönern den Feierabend." Klug, gelehrt und unerbittlich sind diese Essays. Manchmal sind sie auch bedrückend, immer aber erhellend.

Jan Philipp Reemtsma: Helden und andere Probleme. Essays. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020. 300 Seiten, 28 Euro.

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