Süddeutsche Zeitung

"Ray & Liz" im Kino:Harter Blick zurück

Der Fotokünstler Richard Billingham hat einen Erinnerungsfilm über das Elend seiner Kindheit inszeniert: "Ray & Liz".

Von Susan Vahabzadeh

Richard Billinghams "Ray & Liz" ist ein Spielfilm aus einer vergangenen historischen Epoche mit professionellen Schauspielern, aber er erzählt eine wahre Geschichte. Und die ist in manchen Momenten so schmerzlich anzusehen, dass man vielleicht vorwegschieben sollte: Sie ist gut ausgegangen.

Man sieht also ein Paar, in Birmingham, in der Thatcher-Ära. Ray und Liz haben Kinder, aber sie nehmen sie kaum wahr; sie geben sich lethargisch ihrem Schicksal hin, das sie schon in den sozialen Abgrund hat hineinfallen lassen. Der Brutpflegeinstinkt versagt. Eines dieser Kinder aber ist Richard Billingham selbst. Sein kleiner Bruder, erzählt Billingham, sage heute immer wieder, dass sie beide, statistisch betrachtet, im Knast, obdachlos oder tot sein sollten. Sind sie aber nicht. Im Gegensatz zu ihren Eltern haben sie ihr Gleichgewicht gefunden.

Billinghams Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit ist eine Form der Kunst als Selbsttherapie, und es ist faszinierend, ihm dabei zuzusehen, wie er in manchen Momenten die beiden erwachsenen Figuren mit Verständnis und Mitleid betrachtet und sich, im Verlauf des Films, dann doch mehr und mehr auf das schwächste Familienmitglied konzentriert, seinen jüngeren Bruder. "Ray & Liz" ist, wie alle wahren Geschichten, geformt von einem bestimmten Blickwinkel.

Aber nur selten erzählen Filmemacher tatsächlich so direkt von sich selbst, und Richard Billingham hat als stumme Zeugen für seine Perspektive sogar alte künstlerische Arbeiten. Er hat sich mit Fotos vom realen Ray und der echten Liz einen Namen gemacht. Billingham ist Fotograf, für die Arbeiten über seine Eltern war er für den Turner-Preis nominiert. Es ist von ihm zu erwarten, dass jedes einzelne Bild in "Ray & Liz" bis ins Detail durchgestaltet ist, und diese Erwartung hat er auch erfüllt. Die Räume sind beklemmend, ärmlich, aber vollgestopft mit Nippsachen, und alles hat eine Patina aus Dreck.

Der Film ist so eine Art Triptychon des sozialen Grauens, man sieht drei Fragmente aus dem Leben dieser Familie, drei Sozialwohnungen zu unterschiedlichen Zeiten. Es gibt eine Erzählebene in der Gegenwart, in der Ray, schwach und krank, als alter Mann in einem heruntergekommenen Zimmer lebt. In den anderen beiden Teilen sind die beiden Söhne, Richard und sein jüngerer Bruder Jason, noch Kinder. Sie wohnen in einem Haus, Ray säuft und Liz raucht, wenn sie nicht gerade versucht, den Untermieter zu becircen. Jason sitzt auf dem schmutzigen Boden, sich selbst überlassen.

Aber es gibt da etwas, an dem Richard sich festhalten kann: Er hat einen Kassettenrecorder. Er lernt, zu dokumentieren, auch wenn es nichts nützt. Der Untermieter ist ein Kleinkrimineller, der dem Onkel der Kinder, der sich ein wenig Mühe gibt, sich um sie zu kümmern, grausame Streiche spielt. Das Gerät hat aufgezeichnet, was in der Abwesenheit von Ray und Liz passiert ist. Aber die Konfrontation mit diesem Beweisstück läuft ins Leere - hätte Liz nicht die Fähigkeit, auszublenden, was sie nicht erträgt, würde sie sich um ihre Kinder kümmern. Es ist vielleicht brutal, so die eigene Kindheit auf die Leinwand zu bringen - andererseits ist es auch brutal, die Augen vor diesen Kindheit zu verschließen. Gerade eben erst hat die Ausstellung "Bedrooms of London" im Foundling Museum in London Fotografien gezeigt, die Kindheit in Armut ganz ähnlich zeigen.

"Ray & Liz" ist wie ein europäischer Gegenentwurf zu Sean Bakers Film "The Florida Project", der im letzten Jahr ein ähnliches Thema anging - eine junge Frau, die sich mit ihrer Tochter mehr schlecht als recht durchschlägt, bis das Jugendamt vor der Tür ihres Hotelzimmers steht. Für Baker ist der Eingriff des Staates ein unendlich trauriger Moment. Bei Billingham aber fragt das ältere Kind, als endlich das Jugendamt kommt, fast bittend: Nehmen Sie mich mit? Was er erlebt hat, hat ihn vielleicht zu einem Künstler gemacht. Auf jeden Fall hat es ihm einen nüchternen, analytischen Blick gegeben, ohne jede Sentimentalität.

Ray & Liz, GB 2018 - Regie und Buch: Richard Billingham. Kamera: Daniel Landin. Mit: Ella Smith, Deirdre Kelly, Justin Salinger, Patrick Romer, Sam Plant. Rapid Eye Movies, 108 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2019
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