Süddeutsche Zeitung

Restitution von Raubkunst:"Es bringt nichts, zu sagen, alles solle zurück nach Afrika"

In Europa ist eine Debatte über koloniale Raubkunst entbrannt, ein Bericht fordert die Rückgabe der meisten Werke. Guido Gryseels, Direktor des Afrika-Museums im belgischen Tervuren, widerspricht.

Interview von Thomas Kirchner

Der Bericht zweier Kunsthistoriker, der am Freitag an Frankreichs Präsident Emmanuel Macron übergeben wurde, bringt die Debatte über koloniale Raubkunst einen großen Schritt voran. Nach Ansicht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr müsste ein großer Teil der Objekte im Besitz europäischer Museen zurückgegeben werden, zumindest alles, was bei Militäraktionen oder wissenschaftlichen Expeditionen erbeutet wurde. Bleiben dürften nur erwiesenermaßen legal erworbene Werke. Guido Gryseels, seit 17 Jahren Direktor des Afrika-Museums im belgischen Tervuren bei Brüssel, wäre von einer möglichen Restitution direkt betroffen. In seinem Haus, das nach langer Renovierung am 8. Dezember neu eröffnet wird, lagern 120 000 ethnographische Objekte aus dem Kongo, gesammelt zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Unabhängigkeit des Kongo von Belgien im Jahr 1960.

SZ: Was sagen Sie zu den Forderungen in dem Bericht?

Guido Gryseels: Ich bin froh, dass das Thema auf die Tagesordnung kommt. Es ist nicht normal, dass 80 Prozent der afrikanischen Kunst derzeit in Europa oder einem westlichen Land zu finden sind. Afrika hat offensichtlich Anspruch darauf, die Kontrolle über das eigene kulturelle Erbe zu erhalten.

Also alles zurückgeben?

Man kann das nicht verallgemeinern. Ich bin offen für Diskussionen mit jenen Ländern, die eine gute Museumsinfrastruktur haben. Viel schwieriger wird es mit einem Land wie dem Kongo, aus dem die meisten Objekte unserer Sammlung stammen. Dort fehlt die Infrastruktur. Der Direktor des Nationalmuseums sagt, er halte die Diskussion für verfrüht. Er wäre schon froh, wenn man ihm helfen würde, das kulturelle Erbe zu schützen, das sie heute haben und das wirklich bedroht ist. Im Kongo gibt es keine Aufbewahrungsorte, keine Restaurierungsmöglichkeiten. Allein in Kinshasa lagern 85 000 Objekte, die sind kaum inventarisiert. Der Direktor sagt, ihm gehe es weniger um Rückgabe als um Zugang zu unserer Sammlung, damit er Ausstellungen organisieren und die eigene Sammlung vervollständigen könne.

In Ruanda fragt man sich, wo das kulturelles Erbe des Landes überhaupt hingeschafft wurde. Wäre es deshalb nicht wichtig, dass die Museen hierzulande Zugang zu ihren Inventaren gewähren?

Die Debatte hat sich geändert: Erst ging es nur um Beute aus Feldzügen, später um illegal Erworbenes, und manche sagen nun, alles müsse zurück nach Afrika, wenn die Museen den legalen Erwerb nicht nachweisen können. Ich bin bereit, mich an einen Tisch zu setzen. Wenn die Ruander etwa gewisse Objekte zurückhaben oder besseren Zugang zu unserer Sammlung wollen, dann können wir darüber diskutieren. Es bringt nichts, zu sagen, alles soll zurück nach Afrika. Erst mal müssen wir wissen, wie es genau zu uns kam.

Aber was genau sollte man jetzt tun?

Erst mal offen und transparent sein und einen Dialog beginnen. Zweitens brauchen wir einen analytischen Rahmen, den müssen wir zusammen mit der Regierung entwickeln und uns anschauen, wie in Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich darüber geredet wird. Wenn Objekte aus Plünderungen oder Militäraktionen stammen, ist die Sache klar. Ebenso bei menschlichen Überresten. Darüber hinaus müssen wir Kriterien entwickeln, unter welchen Umständen eine Rückgabe in Betracht kommt. Manches wurde von Missionaren gesammelt, und wir wissen nicht, wo sie es herhaben. Wir müssen die Provenienzforschung deutlich verstärken.

Erwischt Sie der Bericht auf dem falschen Fuß?

Ich war schon vor vier Monaten im Kongo und in Ruanda, um über Rückgaben zu reden. Das Thema ist kompliziert, selbst in Europa. Über die Elgin Marbles (Marmorskulpturen von Bauten der Akropolis, Anm. d. Redaktion) können sich Griechenland und Großbritannien seit Jahren nicht einigen, obwohl sie allen Kriterien von Raubkunst entsprechen. Im Louvre lagern 188 Kunstwerke, die Napoleons Truppen im 19. Jahrhundert in Flandern stahlen. Wenn man anfängt über die Rückgabe von Kunst nach Afrika zu reden, öffnet man die Tür zu einer Menge anderer Ansprüche. Man kann nicht einfach sagen: Ok, die Afrikaner sind moralisch im Recht, es ist ihr Erbe, also bringt uns Lastwagen und wir schicken alles zurück. Einen Teil dieses Erbes - Archive und ähnliches - könnte man relativ schnell digitalisieren und dann in digitaler Form zurückgeben.

Wurden Sie um Rückgaben gebeten?

Seit ich hier Direktor bin nicht. Höchstens informell in Diskussionen, etwa mit den Ruandern.

Was bedeutet das für Ihre Sammlung, wenn man die Kriterien des Berichts anlegt?

Wir müssen unsere Sammlung noch viel genauer untersuchen. Was ist jenseits aller Zweifel? Was stammt aus Militäraktionen? Und wir brauchen einen gesetzlichen Rahmen. Unsere Sammlung gehört dem Staat. Ich kann darüber nicht allein entscheiden. Außerdem muss geklärt werden, wer um Rückgabe bitten kann: Museen, Regierungen, Kulturminister? Und welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft?

Was meint die belgische Regierung dazu?

Unsere Wissenschaftsministerin hat erklärt, sie werde eine Arbeitsgruppe bilden. Der Außenminister sagt, er sei offen für die Debatte. Aber eine formale Position der Regierung gibt es noch nicht.

Sind Sie Macron dankbar, dass er das Thema so offensiv angeht?

Ich bin froh, dass er das auf die Tagesordnung gebracht hat. Wir müssen nur aufpassen, dass es nicht zu polemisch wird und sich in ein paar Wochen schon niemand mehr dafür interessiert. Dahinter steckt eine breitere Debatte: der Wunsch der Afrikaner, ernst genommen und als Partner akzeptiert zu werden. Sie wollen die Europäer zwingen, über die Folgen der Kolonialpolitik nachzudenken. Das hat noch kein einziges europäisches Land ernsthaft getan. Die koloniale Attitüde geht über die Besetzung eines Landes hinaus, sie wirkt sich auf unsere heutige multikulturelle Gesellschaft aus. Über unser Museum kamen viele belgische Familien erstmals in Kontakt mit Afrika. Und 70 Jahre lang hörten sie die Botschaft, dass westliches Denken dem afrikanischen überlegen sei, dass die Afrikaner nackt mit Speeren herumlaufen und wir ihnen Zivilisation und Gerechtigkeit bringen müssten.

Hat sich Ihre eigene Einstellung verändert?

Natürlich. Wenn die afrikanischen Gemeinschaften legitime Ansprüche anmelden, denkt man darüber nach, ändert sich, entwickelt sich weiter. Bis vor zehn Jahren haben sich noch viele hinter den rechtlichen Problemen versteckt. Jetzt wird das moralische Recht auf Rückgabe anerkannt. Wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, dass nicht die Afrikaner die Legitimität ihrer Forderungen beweisen sollten, sondern wir die Legitimität unserer Erwerbungen, hätte ich das für unsinnig gehalten. Jetzt sage ich, da ist vielleicht was dran.

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