Süddeutsche Zeitung

Rassismus:"Es gibt keine Nichtrassisten, nur Antirassisten"

Der Politologe Ibram X. Kendi erklärt, warum rassistisches Handeln nicht auf rassistischen Vorstellungen beruht, sondern umgekehrt.

Interview von Sonja Zekri

Es ist kein ganz reibungsloses Telefonat. Ibram X. Kendi versucht, in Washington, D. C., ein Taxi zu bekommen, legt auf, steigt ein, nimmt wieder ab, fährt, irgendwann ist die Rede von einem Bus, aber keine Sekunde verliert er die Konzentration auf den Gegenstand. Es ist derselbe, dem er sein sehr beachtetes Buch "Gebrandmarkt" widmete und über den er am heutigen Montag im NS-Dokumentationszentrum in München sprechen wird: Amerikas Geschichte rassistischer Ideen und der Kampf dagegen. Kendi, einer der meistdiskutierten Historiker Amerikas, führt ihn auch im Ringen mit sich selbst - davon handelt sein nächstes Buch.

SZ: Zu denen, die sich gerade sehr um die Schwarzen bemühen, gehört Hollywood. Der Film "Green Book" beispielsweise erzählt von einem schwarzen Konzertpianisten, den ein weißer Rassist in den Sechzigern durch die Südstaaten chauffiert. Ein überzeugender Versuch?

Ibram X. Kendi: Nach allem, was man hört, ist es einer dieser typischen Filme, in denen ein Schwarzer Probleme hat und einen weißen Retter braucht. In diesen Filmen brauchen wir immer einen weißen Retter.

Noch mal Hollywood: Der Schauspieler Liam Neeson hat jüngst berichtet, dass er vor 40 Jahren nach der Vergewaltigung einer Freundin durch einen unbekannten Schwarzen loszog, um einen Schwarzen zu töten. Er endete mit den Worten: "Ich bin kein Rassist." Ebenfalls typisch?

Typisch daran ist, dass jemand, dem man vorwirft, ein Rassist zu sein, erst einmal darauf besteht, dass er kein Rassist ist. Damit aber zählt er sich zu einer Kategorie, die es meinen Forschungen zufolge gar nicht gibt. Nur sehr wenige Menschen können erklären, was Rassismus ist, aber alle definieren sich erst einmal weit weg. Das ist ein Widerspruch.

Was ist denn ein Rassist - Ihrer Erkenntnis nach?

Ein Mensch, der von einer ethnischen Hierarchie ausgeht, davon, dass eine Gruppe besser ist als die andere. Antirassistische Vorstellungen beruhen auf der Annahme, dass alle Gruppen gleich sind. Zwischen diesen beiden Auffassungen gibt es nichts. Entweder - oder. Deshalb gibt es auch keine Nichtrassisten, aber durchaus Antirassisten.

Das müssen Sie erklären.

Der Antirassist ist bereit zuzugeben, dass er rassistische Ideen geäußert hat; er handelt antirassistisch und begreift die Schwierigkeiten ethnischer Gruppen als Folge einer Politik, nicht als spezifische Probleme Einzelner oder der Gruppe. Die Vorstellung eines Nichtrassisten aber leugnet die Existenz von Rassismus schlechthin.

Betrachten wir die Praxis. Viele Hoffnungen ruhten auf Barack Obama, dem ersten schwarzen Präsidenten. Was ist davon geblieben?

Unter Obama wurde viel von Gleichheit gesprochen, es gab politische Anstrengungen, die Ungerechtigkeit zu vermindern. Er wurde zu einer Marke, zu einem Symbol für das postethnische Amerika aufgebaut, sodass viele irrtümlich glauben, nun, da sie den ersten Schwarzen zum Präsidenten gewählt hatten, sei der Rassismus überwunden. Aber schwarze Menschen wurden von Polizisten erschossen, ihre ungleiche Behandlung in der Bildung und in der Strafverfolgung bestand fort.

Der Publizist Ta-Nehisi Coates schreibt in seinem Buch "We Were Eight Years in Power", die Sklaverei sei kein Widerspruch zur amerikanischen Demokratie gewesen, sondern ihre Voraussetzung: die Bedingung für weißen Wohlstand und weiße soziale Gleichheit. Wenn Unterdrückung das historische Fundament Amerikas ist, wie kann es sie je überwinden?

Nationen entstehen aus Gesetzen, Konventionen und Regeln, die in den Vereinigten Staaten zu Ungleichheit geführt haben. Obwohl es eine alte überholte Politik ist, betrachten viele Amerikaner es dennoch als zutiefst amerikanisch oder sehr normal. Wer diese Konstruktion infrage stellt, rührt demnach an die Existenz Amerikas. Eigentlich müssten sie also ewig existieren, dürften nie abgeschafft werden. Es stimmt, der Rassismus ist allgegenwärtig, aber die Amerikaner können das ändern.

Unter Donald Trump ist doch alles erst mal schlimmer geworden?

Was Mobilisierung angeht, hat er mehr in Bewegung gebracht als Obama. Viele Amerikaner sind ins Grübeln gekommen über die fundamentale Architektur der Gesellschaft. In dieser Hinsicht war Trump nützlicher. Antirassisten tun ihr Möglichstes, damit Trump eine Abweichung bleibt und nicht noch eine Amtszeit regiert.

Sie beschreiben in "Gebrandmarkt" drei gescheiterte Strategien gegen Rassismus: Selbstaufopferung - Weiße geben freiwillig Macht ab -, Selbstverbesserung - Schwarze arbeiten an sich selbst -, Überwindung der Unkenntnis durch Aufklärung. Wenn nicht mal Bildung hilft, was dann?

Wir sind in Amerika davon ausgegangen, dass Menschen rassistische Politik aufgrund ihres rassistischen Denkens betreiben und dass sie rassistisch denken, weil sie ungebildet sind. Nach dieser Theorie läge allem rassistischen Denken die Unwissenheit zugrunde, sie wäre der Kern. Aber als ich die Geschichte rassistischen Denkens untersucht habe, entdeckte ich einen anderen Verlauf: Menschen haben rassistische Vorstellungen entwickelt, um ihr rassistisches Handeln zu rechtfertigen, und sie erklärten ihr rassistisches Handeln mit der Unterlegenheit bestimmter Gruppen.

Auch rassistisches Handeln folgt einem Antrieb. Wenn dieser nicht in inneren Überzeugungen liegt, worin dann?

Eigeninteressen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schwarzer ins Gefängnis kommt, ist fünfmal höher als bei einem Weißen. In wessen Interesse liegt das?

In fast allen Bundesstaaten außer Maine sind Gefängnisinsassen von Wahlen ausgeschlossen. Ein Politiker in einem Swing State mit einer der größten inhaftierten Bevölkerung der Welt würde seinen Wahlsieg gefährden, wenn er diese Menschen entlässt. Außerhalb des Gefängnisses müsste man den Inhaftierten Mindestlöhne zahlen, im Gefängnis aber kann man sie billiger einsetzen. Die private Gefängnisindustrie floriert und drängt darauf, dass noch mehr Menschen eingesperrt werden. Staatsanwälte, Polizisten und Richter wissen, dass die Forderung nach Abnahme der Gefangenenzahlen ihre Jobs gefährdet.

Das klingt fast wie eine Verschwörung. Zu den Gegenmitteln: Sie fordern Schikanen, Störungsmanöver, "Harassment". Welche?

Historisch gesehen ändert sich nur etwas, wenn die Mächtigen zum Wandel gezwungen werden - durch Konfrontationen. Wenn Arbeiter vor einer Firma protestieren, die Schwarze bei der Jobvergabe benachteiligt, verletzt dies die Interessen dieses Unternehmens, und es wird dies möglicherweise ändern.

Wenn man Ihre Chronik andauernden Unrechts liest, stellt sich die Frage: Warum protestieren die Schwarzen nicht in Massen und erzwingen diesen Wandel?

Die Menschen sind mit dem Überleben beschäftigt. Viele glauben nicht, dass ein Aufstand etwas ändern würde. Außerdem haben viele die Überzeugung verinnerlicht, dass sie selbst das Problem darstellen.

Ihr nächstes Buch "How to Be an Antiracist" kommt im August heraus. Es dreht sich um diese innere Vergiftung?

Es geht vor allem um meine persönliche Entwicklung, meinen Weg von rassistischem Denken zum Antirassisten.

Sie haben in sich selbst rassistisches Denken entdeckt? Wann?

Das ist einer der entscheidenden Momente in meinem Buch, und deshalb will ich ihn nicht verraten.

Als Kind? Als Erwachsener?

Als ich schon studierte, ich war über zwanzig. Der Weg begann mit meinen Eltern, mit ihren Vorstellungen von Rasse und Identität, einige davon antirassistisch, andere aber auch rassistisch, es war ein doppeltes, ein gespaltenes Bewusstsein, das sie an mich weitergaben. In meinem Studium entwickelte ich den Wunsch nach einem einheitlichen Bewusstsein, dem eines Antirassisten. Aber das Buch berührt viele Aspekte: Was bedeutet antirassistisches Denken für die Biologie, Klassen, Kultur, Gender, Sexualität? Es ist eine Reise.

Geht sie gut aus?

Sie dauert noch an, aber im Grunde: ja.

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SZ vom 18.02.2019/phbo
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