Süddeutsche Zeitung

Theater:Gekaperte Identität

Nach der Rassismus-Debatte: Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat "Identitti" Premiere, nach dem gefeierten Roman von Mithu Sanyal.

Von Alexander Menden

Zu Beginn dieses Jahres erhob der Schauspieler Ron Iyamu schwere Vorwürfe gegen das Düsseldorfer Schauspielhaus. Er habe dort seit zweieinhalb Jahren immer wieder Rassismus erlebt, und niemand habe etwas dagegen getan, so Iyamu. Das löste eine deutschlandweite Debatte über institutionellen Rassismus aus; das Schauspielhaus schaltete eine Beratungsfirma aus Berlin ein, um interne strukturelle Probleme im Haus zu erkennen. Mitarbeiter sollten in Anti-Diskriminierungs-Workshops sensibilisiert werden.

Vor diesem Hintergrund fand nun am Düsseldorfer Schauspielhaus die Premiere der Bühnenfassung von "Identitti" statt, dem allseits gefeierten Romandebüt der Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal. Im Zentrum des Buches steht der Streit um die angebliche Inderin Saraswati, die sich selbst nach der hinduistischen Weisheitsgöttin benannt hat. Sie lehrt an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie, sagt Sachen wie: "Colour ist eine Unterdrückungskategorie", und verweist weiße Studenten des Seminarraums, damit sie lernen, wie es ist, ausgegrenzt zu werden. Für die Romanprotagonistin Nivedita, wie Sanyal Tochter eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter, ist Saraswati ein Idol. Bis sich herausstellt, dass die Professorin eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt und sich ihre Identität nur - ja was? Angemaßt hat? Erobert? Oder hat sie, wie sie selbst sagt, "als Race-Terroristin das Raster gesprengt"?

Die Bühnenversion stammt ebenfalls von Mithu Sanyal. Die Voraussetzungen sind also insofern hervorragend, als Handlungsort, Vorgeschichte des Theaters und Thematik die Produktion mit einer lokalen und überregionalen Relevanz aufladen, von denen andere Inszenierungen nur träumen können.

Rachegöttin Kali wird von Serkan Kaya mit schlumpfblauem Gesicht gespielt

Regisseur Kieran Joel hievt das Ganze gleich zu Beginn auf die Metaebene, indem er Cennet Rüya Voß, die Nivedita spielt, aus dem Off in einem WDR-Interview die Hintergründe des Stücks erklären lässt. Alle Debatten werden hier immer mitgedacht, so signalisiert das, jede mögliche Draufsicht ist uns bewusst. Im Hintergrund laufen immer wieder Social-Media-Nachrichten wie ein digitaler Wasserfall durchs Bühnenbild, das aus einer Mischung aus Niveditas Studentenbude und Saraswatis mondänem Wohnzimmer besteht. Wie im Roman führt Nivedita Zwiegespräche mit der indischen Rachegöttin Kali. Die ist cool, "weil sie beim Sex oben liegt" und wird von Serkan Kaya mit schlumpfblauem Gesicht als eitles, insgesamt ziemlich gut gelauntes Über-Ich gespielt.

Unterfordert werden die Sinne zu keinem Zeitpunkt: Entweder streitet Nivedita, mit ihrem Ex-Freund Simon zum Beispiel, der als weißer Cis-Mann in alle erdenklichen identitätspolitischen Fettnäpfchen tappt, oder mit der besonders engagierten Saraswati-Hasserin Oluchi. Oder es wird gefeiert, mit Sekt und der Cousine Priti, die in England aufgewachsen ist und sowohl sexuell als auch ethnisch weit mehr bei sich ist als Nivedita selbst. Cennet Rüya Voß stellt die Protagonistin mit einer Hingabe dar, die manchmal geradezu gegen die Uneigentlichkeit des inszenatorischen Ansatzes anzukämpfen scheint.

Wenn man Theater als Lüge deklariert - wahrlich kein taufrischer Ansatz -, dann zieht man eine Sicherung ein, die es allen Beteiligten erleichtert, sich jederzeit von dem, was sie zeigen, zu distanzieren. Das nimmt in Düsseldorf zum Teil geradezu rührende Formen an, wenn etwa Mehdi Moinzadeh aus seiner Funktion als Kameramann heraustritt, Nivedita pantomimisch eine unsichtbare Zigarette anzündet und zusätzlich darauf hinweist, dass sei "alles nur Theater".

Die mehrfache Brechung der Kunstform scheint es dem Regisseur allerdings auch zu erschweren, eine nachvollziehbare Besetzungslinie zu verfolgen, außer, dass er sich bemüht hat, ein Ensemble aus Darstellern mit Migrationshintergrund zusammenzustellen (beziehungsweise mit "Migrationsvordergrund", wie es im Stück heißt). So wirkt es nicht eben elegant, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Fnot Tadesse nicht nur gleichsam typgemäß die schwarze Aktivistin Oluchi, sondern auch die weiße Bürgerstochter Lotte spielt. Oder dass, als Kali Nivedita einmal durch die Augen eines "alten weißen Mannes" blicken lassen will, Cennet Rüya Voß tatsächlich für eine Minute gegen einen alten weißen Mann ausgetauscht wird. Ein Theater, das sich seiner Mittel und Fähigkeiten zu bedienen weiß, würde dieses Wechselspiel ohne Fußnoten, ohne temporäre Umbesetzung und dennoch nachvollziehbar bewerkstelligen. Colourblind casting nennt man das übrigens auf englischsprachigen Bühnen, es ist seit Jahrzehnten gang und gäbe.

Diese Unentschiedenheit, die womöglich dem Wunsch entspricht, sich angesichts des kontroversen Themas nach allen Seiten abzusichern, tritt besonders deutlich bei der Lösung zutage, zu der Joel sich für die Figur der Saraswati entschlossen hat: Er besetzt sie doppelt, mit Friederike Wagner in einer blonden und mit Leila Abdullah einer dunkelhaarigen Version. Beide sind immer gleichzeitig auf der Bühne, sprechen abwechselnd, manchmal übereinander hinweg, immer gleich dozierend. Das illustriert in keiner Weise erhellend die Schwierigkeiten mit Saraswatis vermeintlicher oder tatsächlicher Identitätskaperung, es wirkt einfach redundant.

Im Kern ist "Identitti" ein gigantischer Diskurs. Und zwar fraglos einer, der die Komplexität der Themen ethnischer Identität und Rassismus keineswegs umgeht. Doch gerade die Ernsthaftigkeit, mit der diese angegangen werden - etwa das Fehlen einer eigenen Sprache jenseits importierter Begriffe aus den US-amerikanischen Debatten, die Ortlosigkeit von Menschen mit Eltern unterschiedlicher Herkunft und Ethnizität, die Frage, warum Gender fluide sein darf, ethnische Identität aber nicht -, reibt sich an der entschlossenen Albernheit eines Großteils der Inszenierung.

Die letzten Szenen, in denen Sarah Vera Thielmanns Entschluss, sich als Inderin auszugeben, erstaunlich konventionell-psychologisch aufgelöst wird, schaffen es dann trotz all der vorangegangenen Distanzierungsarbeit auch nicht, die Überschreitung der Grenze zum Gefühlskitsch vollständig zu vermeiden. Wenn Nivedita vor einem gigantischen, anatomisch korrekten Kunststoffherz am Ende allesamt auffordert: "Let love flow like a river", fragt man sich, womit sich dieser Abend die so geforderte Liebe verdient haben soll.

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