Süddeutsche Zeitung

Rasmus Grønfeldt Winthers "When Maps Become the World":Jede Karte ist eine Theorie

Ein großes kartografisches Projekt des Philosophen Rasmus Winther legt die geheimen Wünsche und Hoffnungen frei, die sich hinter Landkarten verbergen.

Von Bernd Graff

Die genaueste Karte, das wissen wir spätestens seit J. L. Borges' Kürzestgeschichte "Del rigor en la ciencia" aus dem Jahr 1946, ist leider nicht zu gebrauchen. In starker Anlehnung an eine Episode aus Lewis Carrolls letzter Novelle "Sylvie and Bruno" von 1889 hatten bei Borges die besten Kartografen eines fiktiven Reichs Ewigkeiten damit zugebracht, ihrem Herrscher die beste Landkarte seines Territoriums anzufertigen.

Heraus kam eine Karte im Maßstab 1:1, sie war die exakte Verdopplung der Welt. Und damit zwar genau, aber überflüssig. Bei Borges verwarf man sie darum bald. Auch bei Caroll, der von etwas Ähnlichem mit ähnlich enttäuschendem Ergebnis berichtet hatte, heißt es entsprechend: "Die Bauern mochten die Karte nicht. Sie behaupteten, die Karte bedecke doch das ganze Land und überschatte die Felder. Also nutzen wir nun das Land selber als Karte. Offen gestanden, das reicht irgendwie auch." Tut es aber eben nicht.

Der an der University of California in Santa Cruz lehrende Philosoph Rasmus Winther hat sich grundsätzlich mit Kartierung und Kartografie beschäftigt, um aufzuzeigen, welche Bedeutung Karten in allen Bereichen der Wissenschaft spielen, wie die Klärung räumlicher Verhältnisse bei der Theoriebildung und Repräsentation von Ideen sowohl in den Natur- wie den Geisteswissenschaften hilft. Nicht ohne Grund reden wir von Wissensgebieten und -feldern der Forschung, von kognitiven Landschaften also, in denen natürlich auch Orientierung verlangt ist.

Was in einer Karte wesentlich ist, hängt immer von ihren Absichten ab

Dabei ist die Topografie des Wissens, das macht Winther sofort deutlich, immer abhängig von den Zwecken, die damit verfolgt werden: "Karten sind Abstraktionen, sie ignorieren die Details, fokussieren sich stattdessen auf die Grundzüge, die wesentlichen Charakteristika ihres jeweiligen Gebietes. Was jedoch wesentlich ist, hängt immer ab von den Absichten, die man verfolgt. Wir Menschen nutzen Karten, weil wir einerseits eine tief verankerte Fähigkeit dazu haben, und zwar kognitiv wie sozial, aber vor allen Dingen haben wir ein absolutes Bedürfnis danach."

Karten sind Abstraktionen des realen Raumes. Die Kulturen des Westens operieren seit etwa 500 Jahren mit Karten. Martin Waldseemüller aus Freiburg erstellte 1507 die erste Weltkarte, auf der die Landmassen im Westen mit dem Namen "America" bezeichnet wurden. Danach explodierte das Kartenwesen im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Gründe waren natürlich einmal die Entdeckung der neuen Welt, aber auch eine Faszination der Renaissance an der ptolemäischen Geographie.

Hinzu kommt eine Wissensrevolution, die auf Experiment, Messung und Quantifikation beruht. Der aufkommende Realismus in den Künsten spielt eine Rolle, vor allem die Entdeckung der Zentralperspektive. Landbesitzer beginnen, mit ihrem Grund zu planen, Nationen bilden sich, Kriege werden geführt, Kolonien gegründet. Am Ende des 16. Jahrhunderts hat jeder Potentat, der Potentat bleiben wollte, begriffen, dass er Kartenmaterial benötigt, um wirklich herrschen zu können.

Die Globalisierung hat die Welt zugleich dichter und komplexer gemacht

Hielt sich der Begriff von Karte durchgängig bis fast zum Ende des 20. Jahrhunderts - eine plane Abstraktion des realen Raums - so explodiert das Kartenwesen mit dem Aufkommen geografischer Informationssysteme (GIS) ab dem Beginn der Neunzigerjahre: Nun können in Karten nicht nur Orte erfasst und somit erst verortet werden, sondern auch Daten und damit die Zeit und ihre Verläufe.

Die Wurzeln jedes GIS liegen in der Geografie, doch neben reinen Geodaten werden in GIS nun auch Veränderungen überwacht und Ereignisse prognostiziert: Flugbewegungen in Abhängigkeit von Tageszeiten, Krankheitsausbrüche und die Ausbreitungen von Pandemien, Geldströme, Kriegswirkungen. Man erkennt nun Muster, Beziehungen und Sachverhalte, die ohne Kartografie in schierer Datenmenge unentdeckt geblieben wären.

Aus dem Kartensymbolismus, der jahrhundertelang bestrebt war, die Diskrepanz zwischen der gedanklichen und der grafischen Repräsentation der wirklichen Welt möglichst gering zu halten, sind nun Instrumente zur Vermessung von unterschiedlichsten Datenlandschaften geworden. Und tatsächlich ist die Welt durch die Globalisierung ja zugleich dichter wie komplexer geworden. Der marxistische Theoretiker Fredric Jameson hatte 1984 festgestellt, dass "ein unserer Situation angemessenes Modell der politischen Kultur die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung machen muss. Die Ästhetik dieser neuen Kultur muss als die eines Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis definiert werden."

Karten bringen vor allem Wünsche und Ängste zum Ausdruck

Winthers Verdienst ist es, parallel zur Geschichte der Kartografie der Welt die wissenschaftsphilosophischen Implikationen eines jeden Kartenansatzes mitzudenken: Eine Karte ist eine Theorie über die Fakten der Welt, die nach denselben intellektuellen Konzepten erstellt wird wie die Theoriebildung in den Natur- und Geisteswissenschaften.

Wobei er nicht müde wird, dann aber auf die Gefahr der "Pernicious Reification" hinzuweisen, der immer irrenden Ineinssetzung eines Modells mit der Wirklichkeit, ganz gleich ob es sich um die Mercator-Projektion, die bildliche Verflachung der Erde im Atlas, die gengetriebene Evolution oder ein Modell des Homo sapiens handelt: Die Theorie ist nie das Leben.

So macht etwa die "Da Ming Hunyi Tu", eine Weltkarte aus der chinesischen Ming-Dynastie und eine der ältesten Karten der Welt, China zum Nabel der Welt, an den sich kleine Nachbarstaaten schmiegen wie unbedeutende Trabanten. Und doch gilt auch umgekehrt, dass Karten wie etwa das theoriegeborene Crispr zur Bestimmung des menschlichen Genoms ihrerseits wieder die Welt verändern können, weil sie erst zeigen und dann handhabbar machen, was vorher nicht einmal zu denken war.

"Ich denke", schreibt Rasmus Grønfeldt Winther am Ende seines inspirierenden Buches, "dass kartographische Objekte und ihre Analogien im gesamten Wissenschaftsbetrieb vor allem die Wünsche und Ängste deutlich zum Ausdruck bringen, die wir der Welt gegenüber hegen. Unsere Repräsentationen der Wirklichkeit belegen, wie wir uns selber und das Universum verstehen. Sie beeinflussen unsere Begierden, Ängste, beflügeln die Fantasie und unsere Träume - und formen damit die Zukunft unserer Kinder."

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