Raphaela Edelbauers Roman "Dave":Erinnerungen an die Zukunft

Neues Rechenzentrum der Energis-Ision Internet AG in Hamburg

Bürokratisierung im binären Code der Rechner: Blick in einen Serverraum in Hamburg.

(Foto: dpa)

Eine Welt ohne Ästhetik, Seele und Erotik: Raphaela Edelbauers Roman erzählt von einem Programmierer im mentalen Dauernebel des Coding Flows.

Von Andrian Kreye

Raphaela Edelbauer hat mit "Dave" einen Roman geschrieben, der beeindruckend vorführt, was zum Handwerk der zeitgenössischen Literatur alles dazugehört. Ein geradezu geometrisches Gespür für Handlungsebenen und -stränge zum Beispiel, die auch ein Leserhirn aus der Reserve locken können, bei dem die Reizschwelle durch jahrelangen Konsum von Filmen und Serien mit immer komplexeren Dramaturgie-Origamis für schlichte Entwicklungen viel zu hoch liegt.

Außer einem rein politischen Bewusstsein wird inzwischen auch ein Verständnis aktueller und künftiger Technologien und Erkenntnisse der Wissenschaft verlangt. Sonst knicken die Handlungsebenen und -stränge schnell ein. Das gilt besonders, wenn es wie bei "Dave" um künstliche Intelligenz geht, ein Thema, das sich für einen Roman gerade deswegen so gut eignet, weil schon die Debatte darum mit ihren ineinandergreifenden technischen, politischen, wissenschaftlichen und philosophischen Ebenen die Drehzahl jedes noch so überreizten Hirns hochfährt.

Und dann ist da noch das Gespür für pointierte Anspielungen, die der Quellcode der zeitgenössischen Popkultur sind und der Leser, Hörer und Zuschauer auch immer wieder in die Komfortzone des eigenen Bildungsschatzes zurückholt. Da reicht die traditionelle literarische Allgemeinbildung nicht mehr aus. Man muss heute auch noch den Popkulturkanon beherrschen, der sich fast stündlich erweitert.

Die Handlung ist erst glasklar, dann aber kommt die Liebe dazwischen

All das und mehr steckt also in "Dave". Das ist auch gut so, weil der Roman wie kaum ein anderer die Tristesse der digitalen Welt erfasst, die vor und hinter den Schirmen so freud- und trostlos ist wie sonst nur die Leere des Weltraums. Es ist eine Welt ohne Ästhetik, Seele und Erotik. Nicht nur im Roman. Daran haben auch die hübsch gestalteten Büromaschinen aus dem Hause Steve Jobs nie etwas geändert. Edelbauer beschreibt mit bedrückender Präzision die klaustrophobische Wirkung der blassen Welt zwischen Codes und Zweckmöbeln. Weswegen der erste Störfaktor im kristallklaren Handlungsraum in diesem Roman die Liebe ist.

Hauptfigur ist der Programmierer Syz, 28 Jahre alt und Teil eines vieltausendköpfigen Teams, das daran arbeitet, die künstliche Intelligenz Dave über die Schwelle der Singularität zu bringen. Also ein digitales Hirn zu schaffen, das dem Menschen überlegen ist. Syz lebt wie alle anderen, die an Dave arbeiten, im hermetischen Umfeld des Programmierlabors im mentalen Dauernebel des Coding Flows. Die Welt da draußen spielt keine Rolle. Sie ist auch viel zu kaputt.

Raphaela Edelbauers Roman "Dave": Das Digitale legt sich wie ein autoritäres System über die Menschen: die Autorin Raphaela Edelbauer.

Das Digitale legt sich wie ein autoritäres System über die Menschen: die Autorin Raphaela Edelbauer.

(Foto: Victoria Herbig)

Die Welt da drinnen ist eine brutale Klassengesellschaft, in der das Programmiervolk in Kojen schläft, myriadenzeilenweise Code schreibt und "Knircks Kargbrei" in sich hineinschaufelt, während die Wissenschaftlerkaste direkt am digitalen Hirn operiert und in vergleichbarem Luxus schwelgt, in dem es so wundersame Dinge gibt wie Gemüse, Käse, Trauben und Crème Brûlée.

Syz' einzige Flucht ist die Literatur. Und dann kommt gleich zu Beginn die Ärztin Khatun Mnajouri ins Spiel. Trotz seiner nicht vorgesehenen Verknallung rückt Syz dann schon bald im Kastensystem auf. Er soll mitsamt seiner Geschichte, seinem Denken und seiner Erlebniswelt zu einer der Vorlagen werden, nach denen Daves Strukturen gestaltet werden. Zum persönlichen kommt auch bald schon der technische Störfall. Es wäre wie immer Spielverderberei, zu viel von der Handlung zu erzählen.

Die aber ist ja nur eine der Ebenen, die das Lesen dieses Romans vorantreiben. Da sind noch Raphaela Edelbauers lakonisch-schwarzer Humor und ihre federnde Sprache (die Dame ist Österreicherin, um hier mal ein positives Vorurteil bestätigt zu wissen), die schon ihren ersten Roman "Das flüssige Land" prägten. Ihr Spiel mit Anglizismen und Debatten. Die politische Analyse. Ihr Gespür, Neologismen zu erfinden, die weder gekünstelt noch kalauerig wirken.

Gibt es im Zeitalter des Transhumanismus noch Identitätspolitik?

Statt der Identitäts-Zankereien der Gegenwart verrennen sich die Figuren in Schismen zwischen Transhumanisten und "Neoterranern", die sich wiederum innerhalb ihrer Ideologien in Untersekten spalten, die wie in der digitalen Welt der Wirklichkeit auch religiöse Untertöne pflegen. Und dann ist da eben das Feuerwerk der Bezüge. "Solaris", "Blade Runner" und "2001", "Schöne neue Welt", "Fahrenheit 451" und "Der Circle", Frances Yates, Ludwig Wittgenstein und David Bowie - man wird schnell fündig und freut sich.

Bei alledem ist "Dave" keine süffige Science-Fiction. Es geht Edelbauer offenbar um mehr. Sie wagt sich an die Beschreibung einer Gegenwart, die sich permanent so anfühlt, als hätte sie einen Teil ihrer Zukunft schon durchlebt. Mag sein, dass dieses Moment von der Pandemie verstärkt wird, in der die Gegenwart nur noch eine Lücke ist zwischen einer mit jeder Lockdownwoche immer goldeneren Vergangenheit und einer Zukunft der immer leereren Versprechungen.

Edelbauer bringt das gleich zu Beginn am Ende der ersten Begegnung von Syz und Khatun Majouri auf einen sinnlichen Punkt: "Sie aber, in einer einzigen flüssigen Bewegung, schwang sich an meinem Arm vorbei und schloss mich in eine feste Umarmung. Ein Riss: Als ich Khatun Majouri zum ersten Mal roch, geschah mir etwas, das mir nie zuvor widerfahren war. Ich erinnerte mich wohl an etwas - doch nicht an etwas Geschehenes, sondern an die Zukunft; ihr Duft war ein Versprechen auf etwas, das ich noch mühselig an die Oberfläche zu zerren versuchte. Ein inverses Déjà-vu, das sich auflöste, nachdem Khatun sich umgedreht hatte und ungeahnt schnell im Aufzug verschwunden war."

Die digitale Innerlichkeit ist eine deutlich andere als die herkömmliche

"Dave" passt aber auch in seiner Geografie perfekt in die pandemische und digitale Gegenwart. Ohne den Planeten Erde als Schauplatz der Geschichte und des Lebens zwingt die Klaustrophobie der entmaterialisierten Arbeitswelt rund um die noch gar nicht so intelligente Superintelligenz die Erzählung in eine digitale Innerlichkeit, die sich sehr deutlich von der Innerlichkeit der deutschen Nachkriegsliteratur unterscheidet. Der Hyperpragmatismus und die allgegenwärtige Funktionalität dieser Welt steht der bleiernen Schwere Osteuropas zwischen Weltkrieg und Mauerfall in nichts nach. Das Digitale an sich legt sich da wie die Last eines autoritären Systems über die Menschen.

Die Bürokratisierung des Lebens im binären Code der Rechner ist in "Dave" sehr viel bedrückender und bedrohlicher als die ominöse künstliche Intelligenz und ihre mögliche Macht. Das ist einem gar nicht so fremd. Die künstliche Intelligenz ist eben nicht die wesenshafte Bedrohung, die versucht, die Menschen zu vernichten oder zu versklaven, wie in so vielen Science-Fiction-Dystopien.

Es sind vielmehr all die Prozesse und Arbeitsgänge, die in den Aufbau des Maschinenwesens fließen, die ihre zerstörerische Wirkung entfalten. Sehr viel früher, als die KI eine irgendwie gestaltete Handlungsfähigkeit erreicht. So wird die Programmierung der Superintelligenz, die sich im wirklichen Leben auf Tausende Institute und Firmen verteilt, zu einem Kraftakt, der eher an den Bau der Pyramiden erinnert als nur an einen technischen Vorgang.

Wie jeder gute Zukunftsroman dreht auch "Dave" also die Gegenwart nur schlüssig weiter. Man muss sich an die Realitäten dieser Welt eh schon langsam gewöhnen, muss sich darin zurechtfinden. Im Kopf von Raphaela Edelbauer fällt das sehr viel leichter.

Raphaela Edelbauer: Dave. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart, 2021. 431 Seiten, 25 Euro.

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