Buch "Die Politik sind wir!":Der Humanismus ist gescheitert

Buch "Die Politik sind wir!": Autor Raphael Glucksmann.

Autor Raphael Glucksmann.

(Foto: AFP)
  • In ihrem Kampf für eine bessere Welt seien Humanisten und progressive Intellektuelle gescheitert, findet der Autor, Journalist und Politiker Raphaël Glucksmann.
  • Die Verheißungen des Liberalismus hätten die harte Realität des Neoliberalismus gebracht, der heute die Demokratie untergräbt.
  • Sein Ausweg: ein erneuerter Gesellschaftsvertrag.

Von Joseph Hanimann

"Kinder der Leere" hieß im französischen Original 2018 dieses Buch. "Kinder der Überfülle" hätte der Autor es auch nennen können, zumindest für sich selbst. Unter den Sprösslingen des Mai 1968 sei er zweifellos einer der glücklichsten gewesen, schreibt der Sohn des 2015 verstorbenen Intellektuellen André Glucksmann. Die halbe Welt sei in seiner Kinderstube ein- und ausgegangen: afghanische Widerstandskämpfer und algerische Feministinnen, antimarxistische Dissidenten aus Osteuropa und marxistische Oppositionelle aus Lateinamerika. Damit dürfte zusammenhängen, dass der 1979 geborene Raphaël Glucksmann lange brauchte, um seinen eigenen Weg zu finden.

In den Dokumentarfilmen des Fünfundzwanzigjährigen über den Völkermord in Ruanda oder die Freiheitsbewegung in der Ukraine klangen 2004 die großen Themen des Vaters an: Massenmord, Menschenrechte. In Raphaël Glucksmanns mehrjähriger Tätigkeit als Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili wirkten dann die mitteleuropäischen Ursprünge der Familie nach. Ein von André und Raphaël Glucksmann gemeinsam verfasstes Buch suchte 2008 dem damaligen Präsidenten Sarkozy den Sinn des Mai '68 zu erklären, nachdem dieser das ideologische Erbe der Protestbewegung in Frankreich hatte liquidieren wollen. Es habe sich um eine Bewegung individuell-libertärer Auflehnung gegen jede Form von Unterdrückung gehandelt, lautete die etwas einseitige These.

"Unser Horizont bleibt die Emanzipation, aber wir geben dem Begriff einen anderen Sinn."

Heute würde er das so nicht mehr schreiben, gesteht der Autor und bekennt sein tiefes Bedauern, mit seinem Vater nie kontrovers über das Vermächtnis seiner Generation diskutiert zu haben. Für die Söhne und Töchter sehe vieles anders aus als damals für die Eltern. Hätten diese sich von einer durch konservative oder revolutionäre Mythen und Dogmen gesättigten Sinnfülle lossagen müssen, sei seine eigene Generation in eine ideologische Leere geboren. Statt Fesseln zu sprengen, müsse sie neue Verbindungen knüpfen. "Unser Horizont bleibt die Emanzipation, aber wir geben dem Begriff einen anderen Sinn." Die Befreiung des Subjekts habe in die Sackgasse des Individualismus geführt, die Verheißungen des Liberalismus hätten die harte Realität des Neoliberalismus gebracht, der heute die Demokratie untergräbt.

Ja, in seinen jungen Jahren habe auch er an den Liberalismus geglaubt, gibt der Autor zu. Er habe lieber Kant als Hegel, lieber Montaigne als Marx, lieber Voltaire als Rousseau gelesen und statt auf prophetische Ganzheitsvisionen auf die liberale Trennung zwischen der wirtschaftlichen, politischen, religiösen, öffentlichen und privaten Sphäre gesetzt. In der intellektuellen Überheblichkeit der Liberalen und der moralischen Rechthaberei der Linken gegenüber jenen Bevölkerungsschichten, die von der Globalisierung und der individuellen Zersplitterung der Gesellschaft überfordert wurden, sieht Glucksmann das Versagen der Führungskräfte in den letzten Jahren.

"Wir sind gescheitert", schreibt er zu Beginn seines Buchs. "Wir, die fortschrittlichen Intellektuellen, Vorkämpfer des Humanismus, Befürworter der offenen Gesellschaft, Verfechter der Menschenrechte und kosmopolitischen Bürger sind unfähig, die Welle des Nationalismus und Autoritarismus aufzuhalten." Dem trügerischen Ersatz-Wir der populistischen Meinungsführer hätten die intellektuellen und politischen Eliten nichts entgegengehalten als fragwürdige Postulate wie das des Multikulturalismus: ein Begriff, der die Zersetzung der Gesellschaft in Teil-Communities zusätzlich befördert und die öffentliche Diskussion mit zahlreichen Tabus vermint habe.

In einem anderen "Kind der Leere" hätte Raphaël Glucksmann sich eigentlich wiedererkennen müssen. Der zwei Jahre ältere Emmanuel Macron habe mit seiner Abkehr von den alten Parteien und politischen Vorstellungen, seiner Verteidigung der offenen Gesellschaft, seinem Verzicht auf einfache Lösungen, seinem Bekenntnis zu Europa und seiner Belesenheit ein verlockendes Bild geboten, gibt der Autor zu. Dennoch habe er ihm von Anfang an misstraut. Macron wollte die in Frankreich blockierten Energien freisetzen, sein Land aus dem rebellischen Abseits holen und den Gegebenheiten der Welt anpassen, ist nach Ansicht Glucksmanns aber unfähig, die von der Globalisierung verunsicherten Bevölkerungsschichten anzusprechen.

Seine Liste für die Europawahl schaffte knapp den Einzug ins Parlament

"Ihr seid Zehntausende und ich sehe nur ein paar Gesichter" - dieser vom jungen Präsidenten in der Wahlnacht vor zwei Jahren im Louvre an sein Publikum gerichtete Satz machte für Glucksmann Macrons Volksblindheit offensichtlich. Er spreche zu einer Vielzahl von "Ichs", sei als Sprössling der individualistischen Revolution aber zu keiner anderen Vorstellung des "Wir" fähig als jener, die spiegelbildlich aus der Eigeninszenierung seiner Macht und aus der Beschwörung historischer Mythen hervorgehe. Mit einer Ästhetisierung der Politik suche Macron den realen Machtverlust des Staatslenkers, der zusehends den Spielregeln der Märkte ausgesetzt ist, mehr zu überspielen als zu bekämpfen. Hinter seinem "enthusiastischen Konformismus" werde paradoxerweise ein Mangel an politischer Ambition erkennbar.

Aus dieser kritischen Position heraus strebt Glucksmann ein linkes Gegenprogramm ökologischer Ausrichtung an. Das vorliegende Buch steckt dafür das Ideenfeld ab. Mit seinem Plädoyer für eine "tragische Ökologie" beispielsweise will der Autor die Klima- und Umweltfrage aus der Perspektive abstrakter Hypothesen in den Horizont des "Tragischen" überführen, in dem das Ende unserer Welt die höchstwahrscheinlich auf uns zukommende Lebensrealität ist.

Ob damit politisch neue Weg zu öffnen sind, bleibt zweifelhaft. Glucksmanns Versuch, mit der vergangenen Herbst gegründeten Vereinigung "Place publique" die versprengte französische Linke zusammenzuführen, ist er vorerst gescheitert. Seine Liste für die Europawahl hat mit sechs Prozent knapp den Einzug ins Europaparlament geschafft. Als Ideenanreger wird mit diesem zwischen Schreibstube, Regierungskabinetten, Oppositionszirkeln, Plenarsälen und Fernsehstudios herumwirbelnden Intellektuellen aber zu rechnen sein. Die moderne Intellektuellenfigur hat mit ihm eine neue Stufe gesellschaftlicher Löslichkeit erreicht.

Raphaël Glucksmann: Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Carl Hanser Verlag, München 2019. 190 S., 18 Euro.

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