Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen":Sterben üben

Verschmutzte Sprache auf der Suche nach Reinheit: In seinen neuen Erzählungen kreist Ralf Rothmann um etwas Großes, Schreckliches, um den Moment, in dem eine Saite reißt.

Von Thomas Steinfeld

Cover für das Literatur Spezial

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 206 Seiten, 22 Euro

Der erste Satz der ersten Erzählung in Ralf Rothmanns jüngstem Buch lautet: "Gegen Ende der Probe verzogen sich die Wolken, und als mit dem Licht hinter den Kirchenfenstern auch die Violintöne heller zu werden schienen, riss die Saite über dem Steg." Darlegend und ruhig beginnt dieser Satz, eine Periode nach klassischem Muster, um im Hauptsatz plötzlich an Geschwindigkeit aufzunehmen. Das Reißen ist hörbar, und es folgen fünf kurze Wörter, die sich an die beiden weiten Schwünge des einleitenden Nebensatzes anschließen, als wären plötzlich Tempo und Tonart gewechselt.

Der Schriftsteller - oder muss man ihn einen Dichter nennen? - hat offensichtlich an diesem Satz gearbeitet, er hat ihm Klang und Bedeutung gegeben weit über das Maß alltäglicher Sätze hinaus. Und selbstverständlich verbirgt sich in diesem Satz ein Programm, das einzulösen die Erzählung sich anschickt. Auch am Ende der Geschichte wird eine solche Beschleunigung stehen, etwas Grelles und Unerwartetes, auch wenn der Autor innehält, bevor er allzu aufdringliche Botschaften in die Welt setzt.

Es ist erstaunlich, wie sich bei diesem Schriftsteller subjektiver Ausdruck und objektiver Gehalt die Waage halten können

Elf Geschichten sind in diesem Band versammelt, der, ein wenig prätentiös, den Titel "Hotel der Schlaflosen" trägt. Sie alle erzählen davon, wie eine Saite reißt, in einem übertragenen Sinn: Auf die Geschichte von der Geigerin, die nach einer medizinischen Diagnose aus dem Leben fällt, folgt eine Ich-Erzählung, in der ein Offizier des sowjetischen Innenministeriums berichtet, wie er den Schriftsteller Isaak Babel zu Tode brachte. Dann geht es um das plötzliche Auftreten eines Revolvermannes in Pyjamahosen auf einem Schulhof im Ruhrgebiet. Daran schließt sich, in der dritten Person, der Lebensbericht einer jungen Frau an, die es, begleitet von Schlägen, Drogen und einer humpelnden Katze, konsequent aus allen menschlichen Gemeinschaften trägt.

Lauter Versuchsandordnungen sind diese Geschichten, und es mag sein, dass die Form der Erzählung ihrem Existenzialismus entgegenkommt. Die meisten dieser Erzählungen kreisen um etwas Großes und Schreckliches, und bei den wenigen, die es nicht offensichtlich tun, scheint ein Unglück im Hintergrund zu warten. Die Ausnahme, vielleicht nur scheinbar, ist die letzte Geschichte, die deutlich kürzer ist als alle anderen: Sie handelt vom Unzuverlässigen in der Erinnerung.

Isaak Babel ist tot, und der Mörder sinnt seinem Opfer noch einen Augenblick nach: "Nach dem Abdrücken hatte ich wieder dieses Sirren in den Ohren, wie von einer winzigen Feder oder einem elektrischen Draht, aber er starb lautlos, sank hin wie ein Haufen Kleider." Wieder verwendet Ralf Rothmann eine Periode. Doch sie fällt ab, als ließen sich die Ereignisse in Rhythmus und Melodie des Satzes verdoppeln. Ralf Rothmann meint es ernst mit seinen Geschichten: Sie handeln nicht nur von schlimmen Dingen. Sie wollen sie sich gleichsam zu eigen machen: Ralf Rothmann will in die Angst eindringen, in den Schmerz, in den Tod und auch in die Peinlichkeit. Meistens gelingen ihm diese Versuche, auch wenn es in den Erzählungen einige Stellen gibt, an denen er zum Sozialpädagogen wird. Dann heißt es über ein Opfer täglicher Misshandlungen, dass "der Verlust des frühen Vertrauens ihn misstrauisch macht gegen alle für immer". Die Stellen irritieren, weil sie den Verdacht wecken, hinter dem Eindruck der Anteilnahme, der durch eine präzise, aber biegsame und weiche Sprache entsteht, verberge sich die Abgebrühtheit eines virtuosen Trauerredners.

Voller Abschweifungen scheinen die Geschichten zu stecken. Der "Dicke Schmitt", ein Polier, um dessen Lebenskatastrophe es in einer der besten Geschichten aus dem Band geht, besitzt nicht nur eine Stimme, die vom Rauchen so zerfressen ist, dass man es durch die Zeilen hört, sondern spricht auch einen Baustellenjargon, zu dessen Kenntnis man vermutlich selber Maurer gewesen sein muss. Nebenbei tauchen Zigaretten der Marke "Ernte 23", ein Opel Commodore (einer der vielen vergeblichen Versuche dieses Herstellers, in die Oberklasse aufzusteigen), die Lieder von Peggy March und ein Kantholz auf. Diese kleinen Exkurse sind mit der gleichen Präzision gestaltet wie die Angst, der Schrecken oder die Schmach, die sie umgeben. Beide Momente, das schlimme Ereignis und die Abschweifung, stehen in einem innigen Verhältnis zueinander: Erst wenn das Gewebe des alltägliche Lebens auch in seinen Details sichtbar wird, ist zu ermessen, was sich aller Gewohnheit widersetzt.

Die Geschichte vom "Dicken Schmitt" spielt unter Bauarbeitern in der Nähe von Düsseldorf. Der Mord an Isaak Babel wird in einem ehemaligen Hotel in Moskau vollzogen. Der Hengst namens "Admiral Frost" wütet auf einem Pferdehof bei Eberswalde, und der deutsche Professor verbringt eine "Nacht in der Wüste" auf der Halbinsel Baja California in Mexiko (diese Geschichte ist die schwächste, weil erkennbar wird, wie sehr sich der Autor den Stoff erst hat aneignen müssen). Ferner werden Bestatter in Mühlheim an der Ruhr, Filmkomparsen in Berlin und die Entengrütze auf der Alten Eider bei Rendsburg besichtigt. Das ist ein großes Programm, wobei es Ralf Rothmann nicht nur mit den Ortsbeschreibungen, sondern auch mit den Schilderungen körperlicher Arbeit ebenso genau nimmt wie mit den Nachrichten über den Schrecken.

Es ist erstaunlich, wie sich bei diesem Schriftsteller subjektiver Ausdruck und objektiver Gehalt die Waage halten können, die doch bei vielen deutschen Schriftstellern der Gegenwart weit auseinanderstreben, zum Nachteil des Gehalts. Doch gleichwohl: auch die Versiertheit in der mittlerer Erzähllage weckt den Argwohn, Ralf Rothmann habe den Satz, "wahrhaftiges Tun" brauche "keine Professionalität" (er gehört zur Geigerin in der ersten Geschichte), auch gegen sich selbst gerichtet.

Acht der elf Geschichten laufen auf Ereignisse zu, die sich nicht mehr wiedergutmachen lassen. Fünf von ihnen enden mit einem Tod. In den drei weiteren Erzählungen reichen die Erschütterungen zwar nicht so tief, aber weit genug, um die Sicht des Protagonisten auf sein Leben zu verändern. Keines dieses Ereignisse erscheint dabei als etwas Gutes oder auch nur als etwas, das man rechtfertigen könnte. Das Fatale hat kein Gegenüber, und Ralf Rothmanns Erzählungen sind nicht erbaulich, jedenfalls nicht in einem landläufigen Sinn. Eher bilden sie eine "meditatio moris", ein Einüben nicht nur in die Sterblichkeit, sondern auch in das mehr oder minder landläufige Verhängnis - das Verhängnis vor allem, wie es aus dem Zufall entsteht und nicht nur die schlimmsten Konsequenzen für diverse Lebensläufe nach sich zieht, sondern auch eine rettungslose Einsamkeit für jeden, den ein solches Verhängnis trifft.

Von einer "mit Absicht verschmutzten Sprache auf der Suche nach Reinheit" sprach Peter Handke in einer Laudatio, die er vor nun schon fast zwanzig Jahren auf Ralf Rothmann hielt. Nur dass in diesen Erzählungen nicht nur die Sprache "verschmutzt" ist (was vor allem für die wörtliche Rede gilt, für die dieser Schriftsteller ein zuweilen fast absolutes Gehör besitzt), sondern auch die Gestalten selber, der "Dicke Schmitt" zum Beispiel, der Pferdezüchter, die Privatdozentin, die ihre Stelle an eine angebliche Freundin verlieren wird, der Bestatter, der in einer kühnen Variation auf Johann Peter Hebels "Unverhofftes Wiedersehen" den eigenen Vater als jungen Mann in den Sarg legen muss. Der Suche nach Reinheit sind sie alle gewidmet.

Was aber ist mit dem professionellen Trauerredner, dem allzu routinierten Autor, der fast jedes Jahr ein Buch veröffentlicht und bei dem Köpfe "nachdenklich" geschüttelt werden, der junge Frauen mit "frischen Lippen" versieht und die Störche auf dem Schornstein einer alten Ziegelei klappern lässt? Und wirkt nicht mancher Plot, die Erzählung vom Unglück der Privatdozentin zum Beispiel, bis zur Unglaubwürdigkeit und darüber hinaus konstruiert? Sagen wir es so: Es ist die Konvention, die diesem Schriftsteller den Umgang mit den größten Schrecken überhaupt erst möglich macht. Er bedarf des Einverständnisses mit den Lesern, er muss sich auf die sprachliche wie die poetische Routine verlassen, um das schwer Erträgliche zu bannen. "Im Aschenbecher rauchte sein Zigarrenrest, und als ich die Pfanne aus dem Regal nahm und das Licht über dem Herd anknipste, sah ich, dass er keine Schmerzen mehr hatte." Auch dieser Satz bildet eine klassische Periode.

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