Der Krieg verschafft den Menschen, die ihn erlebt haben, Biografien des Leids und der lebenslangen Versehrtheit. Er schreibt jedem einzelnen seine eigene Geschichte des Untergangs in die Seele, und diese Geschichte lebt weiter in den Kindern als unauslöschliches Erbe.
Die Theorie der Leidvererbung ist für den Schriftsteller Ralf Rothmann der Schreibanlass für nunmehr drei Romane, die von den Kriegs- und Nachkriegserfahrungen seiner Familie handeln. Im ersten, "Im Frühling sterben", erzählte Rothmann von den brutalen Schuldverstrickungen des jungen Walter Urban, der später jener schweigsame Vater in beinahe allen von Rothmanns Romanen und Erzählungen über das Ruhrgebiet sein wird. "Der Gott jenes Sommers" wiederum ist die Geschichte des Mädchens Luisa Norff, die das unter Fliegerangriffen zerberstende Dritte Reich auf einem verhältnismäßig sicheren Gutshof bei Rendsburg erlebt. Ihr Vater verwaltet das Militär-Casino in Kiel und versucht, seine Familie mit einer Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Säufertrotz vor den Zugriffen der zwischen Todesrausch und Endsiegtorheit taumelnden SS zu schützen und durch die letzten Kriegstage zu bringen.
In der Casino-Kneipe arbeitet auch Elisabeth Isbahner als Aushilfe. Rothmanns Leser erinnern sich an die in "Der Gott jenes Sommers" noch als leichtfertig und lebensfroh geschilderte junge Frau. In Ralf Rothmanns neuem Roman "Die Nacht unterm Schnee" rückt Elisabeth ins Zentrum der Geschichte. Mit ihrer Familie gerät sie bei der Flucht vor der Roten Armee unter Beschuss, Elisabeth ist die einzige, die den Angriff überlebt. Den Preis dafür zahlt sie ihr Leben lang mit unaussprechlichem und unausgesprochenem Leid, das sie in einen Selbstmordversuch treibt und das sie später die Hand mit brutaler Gewalt gegen ihre eigenen Kinder erheben lässt.
Newsletter abonnieren:SZ Literatur
Interessante Bücher, dazu Interviews und ausgewählte Debatten-Beiträge aus dem Feuilleton - jeden zweiten Mittwoch in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.
Noch in den Schilderungen entsetzlicher Vorgänge sucht seine Sprache nach Erlösung
Ralf Rothmann deutet in diesem Roman auch etwas vom Making of seiner Trilogie an, von den Briefen, die er mit einer Frau gewechselt hat, die seinen Vater als jungen Mann gekannt hatte. Im Buch ist diese Frau nun Luisa Norff, die als manische Leserin schon früh ihre Wirklichkeit in der Literatur gefunden hat. Ihr überträgt Rothmann die erzählerische Hoheit über die Geschichte, in der Luisa, die selbst auch Vergewaltigung, Not und Todesfurcht erlebt hat, so etwas wie eine teilnehmende Beobachterin ist.
Elisabeth hat den Melker Walter geheiratet und ist zu ihm auf den Hof nach Missunde gezogen und nun zum zweiten Mal schwanger. Anstatt, wie ursprünglich geplant, nach Paris zu reisen, hilft Luisa den beiden. Die Arbeit im "Paradies" des Bauernhofs ist hart und brutal, und das im doppelten Sinn Viehische dieses Lebens, das nur die primitiven Grundbedürfnisse zulässt, findet in der immer mit Formen der Gewalt einhergehenden Sexualität, der "Lüsternheit der Männer", Ausdruck. Auch Luisa und Walter verbindet eine scheue Liebe, die sich zumeist in Blicken und vagen Signalen zu erkennen gibt. Einmal schlafen sie miteinander, eine fast flüchtige, traumartige Szene, die Rothmann mit Bedacht folgenlos bleiben lässt. Über Walter heißt es nämlich im Roman: "Die Liebe hatte man ihm womöglich ausgetrieben im Krieg, nicht aber den Atem für das Wort."
Ralf Rothmann unterhält einen ans Religiöse grenzenden Glauben an die Bannkraft seiner Sprache, die immer an die Dinge rühren will und noch in den Schilderungen entsetzlicher Vorgänge nach Erlösung sucht. Einmal heißt es zum Beispiel, der Vorgang des Melkens erzeuge Töne, die an ein Flötenspiel erinnern.
"Das Normale, das war das Grauen"
Die Liebe in Zeiten der Gewalt, das ist das große Thema dieses Romans, der von der schmerzlichen Beziehung zwischen drei Menschen erzählt, die durch Not und Pflichtempfinden aneinander gebunden sind. "Das Normale, das war das Grauen", sagt Luisa, und in dieser Normalität soll nun das Menschliche Platz finden, die Liebe, das Vertrauen, die gemeinsamen Kinder? Walter und Luisa haben einmal, das ist eine der eindrücklichen Szenen im Vorgängerroman, miteinander ein Kalb auf die Welt geholt - eine körperlich schwere Arbeit mit viel Blut und Schmerz. Das war ihr gemeinsames Geburtserlebnis. Es gehört zu Rothmanns poetischem Plan, Schlüsselszenen aus vorangegangen Erzählungen allegorisch nachwirken zu lassen.
Aber Walter wird mit Elisabeth, die er nicht liebt und die ihn nicht liebt, zwei Kinder haben, wobei Sonja vielleicht gar nicht von ihm ist, sondern vom paternalistischen Gutsbesitzer, unter dessen Knute das Ehepaar steht. Das Mädchen hat einen Geburtsfehler, ein Wort, hinter dem die Erzählerin eine "tiefgraue Seelenschlucht vermutet". Grau ist die Grundfarbe dieser in vielem niederdrückenden Geschichte. Rothmanns Leitmetapher in diesem Roman ist der dunkle Untergrund, die Bunkerfinsternis, in der Elisabeth ausharren muss, ehe sie in die etwas grobschlächtige Obhut des Russen Dimitrij gerät.
Der offenbar in medizinischer Hinsicht erfahrene Soldat vernäht ihre Wunden, die ihr seine Kameraden bei Vergewaltigungen beigebracht haben, die Rothmann in aller Grausamkeit schildert. Wenn dieses Urerlebnis der seelischen und leiblichen Zerstörung erzählt wird, wechselt die Erzählperspektive ins Auktoriale. Damit löst Rothmann seine Poetik der Andeutung und der Mutmaßung ein: Nur der Leser erfährt von den Einzelheiten der barbarischen Tortur; nur die Leserin bekommt ein Erzählmodell für den Grund, warum Elisabeth die Unstete sein wird und später, als die Familie ins südliche Ruhrgebiet, nach Oberhausen zieht, die verzweifelt Untreue, die am Wochenende durch die Bumslokale zwischen Zechenturm und Kohlehalde zieht und ihren Mann zum Gespött der Kumpel macht. Walter hat sich endgültig in seinem Schweigen eingerichtet. Im Keller züchtet er Kanarienvögel. Was für ein ergreifendes Bild: Der Bergmann behütet sich unter der Erde Lebewesen, die zum Himmel streben.
Es gebe nur wenige Bücher, die nicht aus Liebe geschrieben wurden, heißt es
Ralf Rothmann deutet und erklärt nichts. Dieses Verfahren hat er in "Die Nacht unterm Schnee" noch einmal verfeinert, indem er das Gewicht der Geschichte auf die Figuren verteilt. Vor allem ist es Luisa, deren Affinität zu Literatur und Sprache ein utopischer Wink ist: Kaum etwas, sagt sie, sei in ihrem Leben "menschenfreundlicher gewesen als die Bücher". Das mag etwas von der schwermütigen Koketterie der jungen Frau zeigen, die mit ihren Lektüren in der Nazizeit eine Art innere Emigration gewählt hat. Später studiert sie Bibliothekswesen, heiratet den Literaturdozenten Richard Block, der als Häftling in Neuengamme saß und Luisa sozusagen einen Platz auf der unbefleckten Seite der Geschichte sichert. Luisa bleibt zwar die in Mitgefühl mit den Urbans verbundene Freundin, aber deren Schwermut und Prekariat ist sie früh entkommen.
Von den drei historischen Romanen Rothmanns ist "Die Nacht unterm Schnee" der bewegendste. Auch wenn er zu Manierismen und Appositionen dieser Sorte neigt: "Die nassen Haare zurück gekämmt, trug er einen sichtlich neuen Baumwollpullover." Ob zudem eine Frau, die wie Luisa in den zwanziger Jahren geboren ist, von "Geflüchteten" und der "Sicherung von Medienqualität" sprechen würde, ist eher fraglich und vermutlich die Frucht eines übereifrigen Lektorats.
Diese kleinen Einwände berühren aber nicht das Ganze dieses außergewöhnlichen Romans, mit dem Ralf Rothmann wieder zeigt, wie wagemutiges poetisches Erzählen der geschichtlichen Wahrheit nahe kommt. Erzählerische Unruhe und das Motiv der unablässigen Verstörtheit geben diesem Buch große Dringlichkeit. Aber immer wieder geht es auch um die tröstende Kraft der Literatur, die Seelenrettung durch das Erzählen. Es finden sich sogar heitere Bilder für die Mühen, aus der Wortlosigkeit in die Sprache zu finden, zum Beispiel wenn der kleine Wolf, der Sohn von Walter und Elisabeth, den Roman "Madame Bovary" verkehrt herum in den Händen hält.
Ralf Rothmann, dessen Kontur als Schriftsteller sich in der Figur Wolf Urbans abzeichnet, hat in Interviews immer wieder von seinen Eltern gesprochen, von der Gewalt, die seine Mutter gegen ihn ausgeübt habe, von der selbstzerstörerischen Schweigsamkeit des Vaters. Ein Interview-Zitat, die Vergewaltigung seiner Mutter betreffend, findet sich auch im neuen Roman, Elisabeth sagt ihn: "In Pommern hat mich mal einer geschnappt."
Die Banalität dieses Satzes hat Rothmann in einer wortgewaltigen Geschichte der unablässigen Zerstörung aufgehen lassen. Die Liebe, auch die so gebeutelte, durch Lügen und Traurigkeit, Todesverzweiflung und Lebensgier zerschundene Liebe zur erschöpften Siegerin über das Leid werden zu lassen, ist der Erlösungsgedanke dieses gewaltigen Romans . Es gebe nur wenige Bücher, die nicht aus Liebe geschrieben wurden, heißt es gegen Ende. Von diesen Büchern ist "Die Nacht unterm Schnee" eines der ergreifendsten.