Raketen und Visionen:Fünf, vier, drei, zwei, eins

Daniel Mellem erzählt von der "Erfindung des Countdowns", vom Filmset Fritz Langs und dem Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth.

Von Nicolas Freund

Ein Countdown, was ist das eigentlich? Dieses übertrieben dramatische Herunterzählen zu einem besonderen Ereignis, einem Geburtstag, einem neuen Jahr oder dem Start von irgendetwas, meistens einer Rakete. Der Countdown ist die Ausrichtung der Gegenwart auf ein zukünftiges Ereignis, er ist die Feinjustierung des Jetzt, er richtet den Blick in die Zukunft.

Der erste überlieferte Countdown fand nicht bei einem Raketenstart in Cape Canaveral oder einem ähnlichen Ereignis statt, sondern im Kino. Der deutsche Filmpionier und -visionär Fritz Lang führte ihn 1929 als dramaturgisches Element zum damals noch rein fiktionalen Start einer Mondrakete in seinem Film "Frau im Mond" ein. Mit dabei als Berater: Hermann Oberth, Raketenpionier und -visionär, der gerade den Bestseller "Wege zur Raumschiffahrt" veröffentlicht hatte und seit seiner Jugend davon träumte, eine Maschine zu bauen, mit der sich der Weltraum erreichen ließe. Oder wenigstens die Post transportieren. Oder eine feindliche Hauptstadt in Schutt und Asche legen. Was genau man mit der Maschine machte, war für Oberth eigentlich zweitrangig, es ging ihm vor allem darum, überhaupt eine funktionstüchtige Rakete zu konstruieren.

Die abseitigen historischen Details und die leichte Ironie des Romans lesen sich etwas hipsterhaft

So stellt es sich wenigstens der Physiker und Schriftsteller Daniel Mellem in seinem Debütroman "Die Erfindung des Countdowns" vor. In der Schilderung der Dreharbeiten von "Frau im Mond", einer Schlüsselszene des Romans, steht Hermann Oberth direkt neben Fritz Lang, der zum Start der Filmrakete anfängt zu zählen; und vom Kameramann bis zum Techniker weiß keiner, was eigentlich genau wann passieren soll. Oberth stellt in den Raum, ob man denn überhaupt rauf zählen müsse. Lang ist begeistert: "Das ist es - wir zählen runter! Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Dann ist jedem klar, dass die Rakete bei null starten wird. (...) Was für eine großartige Idee von mir."

Deutsche Raketenforscher, 1930

Deutsche Raketenforscher im Jahr 1930 auf dem Flugplatz Reinickendorf bei Berlin. Die Aufnahme zeigt ganz links Rudolf Nebel und Dr. Ritter sowie Kurt Heinrich (4.v.l.), daneben Hermann Oberth, rechts vorne Klaus Riedel und hinter ihm Wernher von Braun.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Nach dieser Szene hat Mellem seinen Roman benannt, in dem Oberth immer der ist, der danebensteht, wenn etwas passiert: der Erste Weltkrieg, die Entwicklung der V2-Rakete, der Zweite Weltkrieg, die Mondlandung und sogar seine eigene Familie. Mellems Buch ist eine Art Biografie Oberths in Romanform und nimmt sich deshalb auch einige Freiheiten, verdichtet Ereignisse oder lässt sie weg.

In elf Kapiteln - das Buch ist selbst ein Countdown - erzählt der Roman streng chronologisch exemplarische Episoden aus dem Leben Oberths, die immer irgendwie auf sein Lebensthema, die Konstruktion von Raketen anspielen: die Jugend im damaligen Siebenbürgen, Spiele und Wettrennen mit dem Bruder, bei denen noch zum Start bis drei gezählt wurde, Raumfahrtvisionen ausgehend von Jules-Verne-Romanen und viele schräge Gestalten, die Oberth während seiner Studienzeit in Göttingen traf.

Raketen und Visionen: Der Schriftsteller und Physiker Daniel Mellem.

Der Schriftsteller und Physiker Daniel Mellem.

(Foto: dtv)

Das wird in einem nüchtern-realistischen Ton erzählt, in dem nur manchmal ganz leicht etwas Ironie aufscheint. Historische und erzählerische Details wie die Kleidungsstile der Studenten, Biergläser auf Tischen, ausführliche Beschreibungen der frühen, teils slapstick-artigen Raketentests, lassen die Erzählung etwas hipsterhaft erscheinen. Ein historischer Roman, leicht zu lesen, mit einem abseitigen Thema, aber ohne allzu störende Exkurse oder Thesen. Mellem studierte nach seinem mit der Promotion abgeschlossenen Physikstudium am Literaturinstitut in Leipzig, und auch diese Schule merkt man seinem Text an. Fast programmatisch führt der Roman genau jenes filmische Erzählen vor, das den Schreibschulschülern immer vorgeworfen wird. Die Dramaturgie dieses Romans ist mehr an Hollywood-Biografien, als an Literatur geschult. Manche Figuren, wie der strenge Vater, die schweigsame Mutter und in der Bierkneipe raufende Studenten sind zur Karikatur geraten. Die meisten der kurzen Szenen laufen auf eine wenig überraschende Pointe heraus. Auch das erinnert an die Dramaturgie populärer Kinofilme. Formal wagt der Roman nichts, er ist sogar geradezu konventionell, vor allem gegenüber dem großen Raketenroman "Die Enden der Parabel" von Thomas Pynchon, der alle Regeln bricht, die hier so brav eingehalten werden.

cover

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns. Roman. Dtv, München 2020. 288 Seiten, 23 Euro.

Uninteressant ist "Die Erfindung des Countdowns" trotzdem nicht. Immer wieder deutet er trotz der leichten Ironie und der unverkennbaren Sympathien für seine Hauptfigur dessen Ambivalenzen an, besonders in der zweiten Hälfte die rassistischen und rechtsradikalen Neigungen Oberths, der die an der Konstruktion der V2-Rakete beteiligten Zwangsarbeiter kritisch beäugte und als "Volksdeutscher" aus Siebenbürgen Minderwertigkeitskomplexe hatte, nach dem Krieg aber dennoch in die NPD eintrat und immer wieder von einer Deutschen Weltherrschaft fantasierte, natürlich unter maßgeblicher Beteiligung seiner zu keiner Zeit einsatzfähigen Raketen.

Der ignorante Zukunftsoptimist glaubt unbeirrt an den Fortschritt und übersieht die totalitäre Seite

Später, als er wie sein ehemaliger Schüler Wernher von Braun, in dessen Schatten er zeitlebens stand, in den USA weiter an Weltraumraketen forschen darf, wird er vom Ufo-Fieber erfasst und beginnt, Vorträge über fliegende Untertassen und ihre möglicherweise außerirdischen Piloten zu halten. Schön deutet der Roman hier manches nur an und überlässt Schlüsse dem Leser. So sucht der immer mehr zur Esoterik neigende Oberth ein Medium auf, das angeblich mit Toten kommunizieren kann. Seine Frau Tilla - im Roman als zeitlebens unter ihrem kauzigen Erfindergatten Leidende dargestellt - fragt im darauf folgenden Kapitel, wo denn die Alufolie sei. Das schlägt dann auch sanft einen Bogen in die Gegenwart, wo es von der Esoterik und den sogenannten Aluhutträgern zum Rechtsradikalismus derzeit oft auch nicht mehr weit ist, urteilt aber nicht und nimmt diese Fährten auch nicht mehr auf, obwohl man es sich als Leser zwischen all den streng realistischen Schilderungen der Ereignisse manchmal wünschen würde, dass dieser Roman einfach etwas mehr ausprobiert. Nach dem Eintritt in die NPD lässt der Roman die Ehefrau Tilla zumindest dem Rassismus und Nationalismus ihres Mannes vehement widersprechen.

Der Physiker und Raketeningenieur Hermann Oberth erscheint in dieser Erzählung seines Lebens vor allem als sturköpfiger und ignoranter Zukunftsoptimist, der vieles falsch machte, aber unbeirrt daran glaubte, Fortschritt bringe die Menschheit in eine bessere Zukunft. Und dieser Fortschritt müsse von Menschen gemacht werden. Das dachten die Nazis auch, das dachten die frühen Science-Fiction-Autoren, die Ideen von Raketen und Raumfahrt überhaupt erst in die Köpfe der Oberths und von Brauns setzten, das denkt auch heute Elon Musk, der große Raketenbauer der Gegenwart, an den man mehr als einmal beim Lesen erinnert wird.

Utopien und Zukunftsvisionen können etwas Totalitäres haben. Ein Countdown verengt die Zukunft auf ein einziges Ereignis. Aber er stellt die Zukunft auch als etwas Erstrebenswertes vor, als etwas, auf das es sich hinzufiebern lohnt. Besonders an dieses Gefühl erinnert der Roman.

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