Rafael Horzon: Das weisse Buch:Uneinträgliche Leichtigkeit des Seins

Reich und berühmt will der erfrischend größenwahnsinnige Ich-Erzähler in Rafael Horzons "Das weisse Buch" werden - aber nicht mit ödem Pragmatismus.

Alex Rühle

Endlich mal wieder ein Buch, nach dessen Lektüre das ganze Leben leichter wirkt. Dazu noch ein Sachbuch. Oder ist es doch ein Roman? Eine Autobiographie? Egal, jedenfalls blickt man sich nach der Lektüre verwundert im eigenen Alltag um und versteht für einen Moment lang gar nicht, warum man sich die ganze Zeit derart viele Sorgen macht.

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Das "Weisse Buch" ist ein Schelmenroman über die Berliner Szene. Eine Unternehmerbiographie und eine Abhandlung darüber, was heute noch Kunst sein kann.

(Foto: dapd)

Wobei es nicht allen Lesern so zu gehen scheint: Im Internet gibt es ziemlich verständnislose, zuweilen auch wütende Reaktionen auf das "Weisse Buch".

Auf Talkteria.de schimpft jemand, die ganze Geschichte sei doch erfunden, und "wahrscheinlich gibt es den Menschen Horzon gar nicht wirklich". Das wird dem Menschen Rafael Horzon, den es sehr wohl gibt, sicherlich gefallen haben. Schließlich erzählt er zur Zeit selber allen, die es hören wollen, dass gar nicht er, sondern Helene Hegemann sein Buch geschrieben habe. Für diese Theorie spricht, dass Hegemann kürzlich in Horzons "Sach- und Fachbuchhandlung" in der Berliner Torstraße ein Praktikum absolviert hat.

Die Kunst der professionellen Buchanpreisung

In dem Laden wird ein einziges Buch verkauft, sein eigenes, und es gibt ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Horzon die junge Autorenkollegin einführt in die Kunst der professionellen Buchanpreisung, sie solle den Kunden "in ein Beratungsgespräch verwickeln und ihm zeigen, dass da Bilder drin sind, alles so Dinge, die ein guter Buchhändler auch so macht."

Also gut. Hier erst mal ein Beratungsgespräch. Das Weisse Buch ist ein Schelmenroman über die Berliner Szene, eine Unternehmerbiographie und eine Abhandlung darüber, was heute noch Kunst sein kann. Gleichzeitig macht es sich permanent über all diese Genres lustig. Die vielen Lateinzitate erinnern den, der's mag, an Eichendorffs "Leben eines Taugenichts". Das Leben dieses Taugenichts kommt in Ich-Form und in bewundernswert leichtem Spaziergängerparlando daher und setzt im Studium in Paris, im Seminar von Derrida ein.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Horzon eine Geschäftsidee nach der anderen in den Sand setzt.

Der dritte Weg

Nach einer ganz kurzen Station im erzlangweiligen München geht der erfrischend größenwahnsinnige Ich-Erzähler nach Berlin, in die Stadt, in die Anfang der neunziger Jahre alle strömten, die irgendwas mit Kunst machen wollten. Er selbst macht zunächst Kunst mit irgendwas: Er eröffnet die Galerie Berlintokyo und stellt dort japanische Künstler aus, die es gar nicht gibt.

Der Betrieb fällt auf solchen Quatsch immer noch rein

Mal werden Chipstüten an die Wand genagelt, mal Haushaltsutensilien aus Horzons Küche ausgestellt und zu Kunst erklärt. Als die Kunstschickeria darauf einsteigt und Berlintokyo zur Documenta eingeladen wird, sagt Horzon nicht wie die meisten: geil, endlich geschafft. Stattdessen wundert er sich, dass der Betrieb auf solchen Quatsch noch immer reinfällt, schließt umgehend die Galerie und macht das Antizyklischste, was man im Berlin-Mitte der Neunziger machen konnte.

Er wird Unternehmer. Im Folgenden setzt er mit Verve, Aplomb und unerschütterlichem Selbstbewusstsein eine Geschäftsidee nach der anderen in den Sand, gründet idiotische Dienstleistungsbetriebe wie die Trennungsagentur Separitas, widmet sich mit Redesign Deutschland einer umfassenden Verbesserung aller Lebensverhältnisse, nimmt am Wettbewerb zur Neugestaltung von Ground Zero teil, gründet ein Geschäft für Apfelkuchenhandel, designt für sein Modelabel Gelée Royale die Kopfkrawatte undschreibt ein Buch mit dem Titel "Der Dritte Weg". Das Schicksal dieses Buches ist symptomatisch für die meisten seiner Aktionen: "Es verkaufte sich in der ersten Woche zehnmal, dann brach der Absatz dramatisch ein."

Immer wieder extreme Notsituationen

Die psychischen und finanziellen Rückschläge, die oftmals in eins fallen, führen immer wieder zu extremen Notsituationen: "Wochenlang ernährte ich mich aus Geldnot nur von Eiweißpulver und Haferflocken, die ich, um teures Wasser zu sparen, trocken miteinander vermengte und einatmete." Glücklicherweise aber ist der Held dieses Buches mit einem wohltemperierten Gemüt ausgestattet. Er bricht zwar nach jedem Scheitern jäh in Tränen aus. Das aber scheint jeweils purgierende Wirkung zu haben: Zwei Sätze später schreitet er jeweils wieder frischen Mutes ins Leben aus, immer mit dem Ziel, reich und berühmt zu werden.

Was ihm mit zwei seiner Projekte auch gelingt: Zum einen ist da die 1997 gegründete Akademie der Wissenschaften, an der man durch Teilnahme an vier Vorträgen zu Themen wie "Schabrackentapir -Säuger des Dschungels", "Hüftgelenkoperationen in Indien" oder "Brutalistische Architektur" ein ganzes Studium absolvieren kann.

Und in seinem Ladengeschäft Moebel Horzon baut er ab 1997 das "formschöne Regal Modern", das er auch selbst ausfährt, oftmals zusammen mit seinem Praktikanten Christian Kracht. Die Uni macht ihn in Berlin-Mitte weltberühmt. Der Laden wirft zumindest so viel Geld ab, dass Horzon nicht mehr Haferflocken essen muss.

Ist das alles nicht nur erfunden?

Bei der Eröffnungsparty dieses Ladens fragt ein Student irritiert, ob das ein echter Laden sei oder nicht doch eher Kunst. Genau derselbe Effekt stellt sich natürlich beim Lesen dieses Buches ein. Ist das nicht alles nur erfunden?

Den Studenten nimmt Horzon freundlich beiseite und erklärt ihm, dass heutzutage "natürlich alles, was ein Mensch zu Kunst erklärt, auch tatsächlich Kunst ist. Aber genauso gut ist alles, was ein Mensch nicht zu Kunst erklärt, keine Kunst. Und wenn ich diesen Möbelladen nun nicht zu Kunst erkläre, sondern zu einem Möbelladen, dann ist er natürlich auch keine Kunst, sondern ein Möbelladen."

Einer von Rafael Horzons Hausgöttern ist seit mehr als 20 Jahren Marcel Duchamp. Duchamp, der zu Brancusi auf der Luftfahrtschau 1912 sagte: "Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?" Duchamp, der mit seinem Flaschentrockner alle Kunst zum alten Eisen warf. Duchamp, für den ästhetische Erfahrung fortan gleichzusetzen war mit immer neuen Welt- und Selbstentwürfen und der sagte, es sei "von allergrößter Wichtigkeit, sich über die Eigenart des Lebens als Spiel klar zu werden".

"Ich bin frei"

Horzon macht ernst mit dem Spiel. Oder wie er selber sein merkwürdiges Treiben einmal Hans Ulrich Obrist gegenüber definiert: "Das ist ungefähr mein Beruf: Interessante Dinge tun, die keine Kunst sind." Das ist der zutiefst irritierende, der nicht wirklich stillzustellende Kern. Alle paar Seiten will jemand Horzons Projekte zur Kunst erklären, eine weinrote Kordel spannen zwischen das Leben und das jeweilige Projekt, und es damit gewissermaßen abheften, ach so, Kunst, na dann. Horzon aber weigert sich, hinter diese Kordel zu treten.

So aber stellt er mit diesem Buch, dessen tieferer Witz gerade darin liegt, dass die allerunwahrscheinlichsten Dinge darin tatsächlich stattgefunden haben, unser aller Leben, das ängstliche Scheine- und Diplomsammeln, den ganzen öden Pragmatismus in Frage. Warum nur beharren wir so darauf, immer schön auf dem Teppich zu bleiben, wenn der doch nur steingraue Auslegware ist, statt wie Horzon den "Dritten Weg" zu gehen, den er einmal so beschreibt: "Der Dritte Weg biegt als fast unsichtbarer Pfad an der Stelle ab, an der sich zwei breite Wege in die Verzweiflung gabeln."

Weil Horzon nun schon seit 15 Jahren diesen Pfad langläuft, den außer ihm kaum einer findet, lieben ihn mittlerweile alle in Berlin dermaßen, dass man sich manchmal fragt, ob es in der ganzen Stadt überhaupt noch irgendjemanden gibt, der nicht in Spontanekstase verfällt, wenn von "dem Rafi" die Rede ist, der im wahren Leben tatsächlich das ausstrahlt, was er in den letzten Sätzen seines Buches ironisch überhöht: "Ich fühle mich leicht. Ich habe keine Angst. Ich bin frei."

RAFAEL HORZON. Das weisse Buch. Suhrkamp, Berlin 2010. 218 S., 15 Euro.

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