RAF-Roman:Ein Terrorist beim Klassentreffen

Berndhard Schlink fragt in seinem neuem Roman "Das Wochenende" nach der Wahrheit der RAF-Sympathisanten. Hauptsache, die Politik bleibt draußen.

Burkhard Müller

Betrachtet man rückblickend den deutschen Terrorismus, so bleibt das Erstaunlichste an ihm, dass eine so kleine Gruppe von Leuten eine so weitreichende Wirkung ausüben konnte.

RAF-Roman: Bernhard Schlink arbeitet sich in seinem neuen Roman "Das Wochenende" am RAF-Phänomen ab.

Bernhard Schlink arbeitet sich in seinem neuen Roman "Das Wochenende" am RAF-Phänomen ab.

(Foto: Foto: dpa)

Sie taten es, indem sie behaupteten, dass der Staat, statt auf dem Gesellschaftsvertrag, wie von ihm selbst beansprucht, vielmehr auf Gewalt beruhe, und ihn zwingen wollten, es zu zeigen. Und es gelang ihnen, den Wahrheitsbeweis für ihre These anzutreten: Ein Staat, der nicht bereit ist zu töten, ist keiner.

30 Jahre später scheint die Zeit gekommen zu sein, dieses peinliche Faktum wieder zuzudecken. Man fasst nicht mehr die Frage von damals ins Auge, sondern die geringe Zahl derjenigen, die sie gestellt haben. Vor dreißig Jahren nahmen Staat und Terroristen einander als politische Feinde ernst. Die RAF loste es aus, wer aus ihrer Mitte jeweils den tödlichen Schuss zu setzen hatte, denn das galt ihr nur als ein Glied in der Handlungskette des bewaffneten Kampfs; und die Gerichte folgten ihr insofern, als sie alle Beteiligten unterschiedslos wegen Mordes verurteilten.

Eine Generation später kommt das damals absichtlich ausgeklammerte Problem der Täterschaft im engsten Sinn wieder auf den Tisch wie ein Verfahrensfehler. Der Terrorist soll ganz und gar zur Einzelperson werden, seine Tat bereuen und im Gegenzug den Rest seines Lebens als unbehelligter Rentner verbringen dürfen. Er stellt ein Gnadengesuch, der Staat bewilligt es, und so bescheinigen sie einander das Humane. Der Terrorismus, darauf scheint man sich umfassend geeinigt zu haben, wird privatisiert.

Abgepuffert

In der geometrischen Mitte dieses breiten Konsenses befindet sich Bernhard Schlinks Buch "Das Wochenende". Der Terrorist Jörg hat vierundzwanzig Jahre seiner Strafe verbüßt und wird nunmehr vom Bundespräsidenten begnadigt. Es holt ihn seine ältere Schwester Christiane vom Gefängnis ab, die ihn als Kind fast allein aufgezogen und sich während der Haft mit nie nachlassender Fürsorge um ihn gekümmert hat. Um ihm den Kontakt mit der Öffentlichkeit, die sich natürlich auf seinen Fall stürzen will, zu ersparen, bringt sie ihn zunächst auf das kleine verfallene Schloss in Brandenburg, das sie vor Jahren zusammen mit ihrer Freundin Margarete gekauft hat.

Dorthin lädt sie zum titelgebenden Wochenende Jörgs alte Weggefährten, eine akklimatisierende Maßnahme. Alle sind sie inzwischen Mitte bis Ende fünfzig, und aus allen ist etwas geworden: aus Henner ein Starjournalist, aus Karin eine Landesbischöfin, aus Ulrich der Besitzer eines halben Dutzends Dentallabors, aus Andreas ein prominenter Rechtsanwalt. (Nur bei der Lehrerin Ilse könnte man im Zweifel sein, aber die kriegt dafür eine besondere Aufgabe.) "Christiane hatte eine Tischordnung gemacht, und vor jedem Teller stand ein Kärtchen mit Namen und Bild - einem Bild von damals. Mit großem Hallo wurden die Bilder herumgereicht und bestaunt . 'Guck mal!' - 'Der Bart!' - 'Die Frisur!' 'So sah ich damals aus?' - 'Du hast dich aber verändert!'"

Schlink betreibt Vergangenheitsbewältigung aus dem Geist des Klassentreffens. Das nur höchst vage benannte "linke Projekt" scheint in den warmen Farben der Reminiszenz. "Wisst ihr noch, wie wir in der Vorlesung von Professor Ratenberg Ratten laufen ließen? Wie wir bei der Rede des Bundespräsidenten die Lautsprecheranlagen neutralisiert haben? (. . .) Wie wir das Plakat zur Isolationsfolter an die Autobahnbrücke gehängt haben?" Schülerstreiche. Inmitten des melancholischen märkischen Idylls, beim gemeinsamen Frühstücken, Salatputzen und Weintrinken, kann man sicher sein, dass auch die schlimmen Dinge im Voraus abgepuffert werden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was der Autor durch seine poetische Gerechtigkeit preisgibt.

Ein Terrorist beim Klassentreffen

In diesem Rahmen lassen sich nun verschiedene Deutungsmodelle erproben und erörtern. "'Die Terroristen unsere verirrten Brüder und Schwestern?' Ulrich schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht zu einem Ausdruck nicht nur der Ablehnung, sondern der Abscheu. 'Glaubt ihr das auch?' Er sah in die Runde."

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Fahndung nach RAF-Mitgliedern in der Schweiz, 1977.

(Foto: Foto: ap)

Margarete hingegen, die ein wenig abseits steht, denkt sich das Folgende: "Sie fand auch Jörg krank. Muss nicht krank sein, wer Leute umbringt, nicht aus Leidenschaft und Verzweiflung, sondern klaren Kopfs und kalten Bluts? (...) Nein, Margarete konnte nur das Mitgefühl haben, das man mit Kranken hat. War das zu wenig?" Jede These ist erlaubt, jede Frage zulässig, Hauptsache, die Politik bleibt draußen.

Trost und Entmündigung

Natürlich weiß Schlink, der der routinierten Dramaturgie des Fernsehspiels folgt, dass man so viel Toleranz und Harmonie ein bisschen aufmischen muss, sonst schläft der Zuschauer ein. Dazu dienen ihm zwei Figuren, die mehr oder weniger uneingeladen auf die Szene stolpern. Da ist zum einen Marko, der junge Heißsporn, der Jörg als Aushängeschild des erneuerten Kampfs gewinnen will. Unter allen blassen Pflichtübungen dieses Buchs bleibt sein Auftritt die blasseste. Und zum anderen steht da plötzlich Jörgs Sohn, der sich unter der Maske eines Studenten der Kunstgeschichte eingeschlichen hat.

Er will jetzt mit dem ewig abwesenden Papa abrechnen, erbittert und unerbittlich, was sich so anhört: "Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. (...) Du hättest wissen können, was es heißt, Kind von Mördern zu sein, und bist Mörder-Vater geworden, mein Mörder-Vater." Und als ob er mit dieser Besinnungsaufsatz-Prosa schon zu weit gegangen wäre, muss einer der Zeugen bei sich denken (denn was jeder so bei sich denkt, weiß Schlink immer ganz genau): "Es ist grausig (. . .) Der Sohn, der nicht seinen Schmerz, und der Vater, der nicht seine Hilflosigkeit zulässt."

Als Meisterin des Zulassens bewährt sich, kaum verwunderlich, die Bischöfin. Ihre Qualifikationen werden folgendermaßen gerühmt: Sie "fand, wenn sie in der Öffentlichkeit das Wort zu den Fragen der Zeit ergriff, den richtigen Ton und sah denen, die ihren Rat suchten, betroffen und anteilnehmend ins Gesicht." Keine Geste kommt in diesem Buch so oft vor, wie dass jemand einem anderen den Arm um die Schulter legt. Es heißt: ich bin dir nah; aber auch: sei still. Trost und Entmündigung verfließen.

Falsche Flagge des guten Willens

Der unbehagliche Kern des Ganzen aber bleiben natürlich die Tötungsakte von damals; von ihnen muss in irgendeiner Weise die Rede sein. Schlink gibt den schwarzen Peter weiter, indem er Ilse, die Lehrerin, sich einfühlend als Laienschriftstellerin daran versuchen lässt. "Jan (ein anderer Terrorist) musste auf das Schweinesystem, die Ärsche aus Politik und Wirtschaft und die Scheißbullen schimpfen. Sie mochte so nicht schreiben. Aber wenn sie nicht schaffte, Jan wie einen Terroristen reden zu lassen, wie sollte sie schaffen, ihn morden zu lassen?" Ilses Scheitern ist also nicht dasjenige Schlinks, sondern ein Kunstmittel. Aber ein lustiger Anblick ist es doch, wie der Autor herumeiert, um ein Wort wie "Schweinesystem", das er wegen seines schrillen Tons nicht mag, jedoch als zwingend genretypisch erkennt, trotzdem in sein Kammerstück zu integrieren.

Durch nichts gibt ein Autor so viel von sich preis wie durch das, was er als poetische Gerechtigkeit erachtet. Besagter Jan wird zwar nie gefasst, hat aber das Pech, sich am 11. September 2001 im World Trade Center aufzuhalten, wo er vor dem Einsturz noch versuchen darf, eine Sekretärin zu retten: So sühnt Schlink, im bürgerlichen Beruf Jurist. Und von Jörg stellt sich heraus, dass er Prostatakrebs hat und darum leider nicht mehr in der Lage ist, die Tochter seines alten Freundes Ulrich zu beglücken. Der alte Terrorist benötigt Windeln. Er ist im buchstäblichen Sinn zum Auslaufmodell geworden. Das, muss man sagen, ist schon ziemlich oberschäbig.

Auch diesem Buch wünscht man eine Sühne, eine, die dem enorm erfolgreichen Vorgängerwerk "Der Vorleser" schon widerfahren ist: Schullektüre soll es werden. Nur so kann es sich auf breiter Basis die gelangweilte Verachtung erwerben, die so viel Unaufrichtigkeit unter der falschen Flagge des guten Willens verdient.

BERNHARD SCHLINK: Das Wochenende. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2008. 225 Seiten, 18,90 Euro.

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