Süddeutsche Zeitung

Theaterfestival:Schwarz ist der Krieg, bunt der Aufstand

Krachend, patriotisch und absolut divers: Das Festival "Radikal jung" am Münchner Volkstheater eröffnet mit zwei Produktionen aus Kiew und Athen.

Von Egbert Tholl

Wenn man 2017, als "Bad Roads" seine Uraufführung in London hatte, genau hingesehen hätte, wenn man dieses Stück aufmerksam gelesen und seine Verfilmung angeschaut hätte, dann hätte man längst alles gewusst, was derzeit im Osten der Ukraine passiert. Man hätte die Not gespürt, den Schrecken erfahren, das Grauen miterlebt, hätte eine Ahnung davon gehabt, was es gerade für eine Frau bedeutet, inmitten eines Krieges zu leben. Zwar wurde die Aufführung rezipiert, die Verfilmung in Venedig gezeigt und von der Ukraine als Oscar-Kandidat nominiert. Aber ins westliche Bewusstsein eingedrungen sind Stück und Film viel zu wenig. Vielleicht ändert sich das nun ein bisschen: "Bad Roads" von Natalia Vorozhbyt eröffnete in der Regie von Tamara Trunova das Festival "Radikal jung" am Münchner Volkstheater und wird in wenigen Tagen auch am Berliner Ensemble zu sehen sein.

2017 reiste Natalia Vorozhbyt in den Donbass, schrieb danach für das Royal Court Theatre in London ihr Stück, dessen Uraufführung sie auch selbst inszenierte. Sechs Szenen, die erste davon eher eine Erzählung, die anderen dialogisch. Diese erste Szene stellte sie vor Kurzem in einer Lesung an den Münchner Kammerspielen vor, wo sie in der kommenden Saison Hausautorin sein wird. Die Szene ist eine absolut umwerfende Mischung aus Humor und Schrecken, einzigartig im Ton. Sie beschreibt sich selbst, wie sie in den Donbass reist, sich in einen Soldaten verliebt, der den Donezker Flughafen verteidigt, beschreibt die Entrüstung über sich selbst, die "miese Schriftstellerin", die den Soldaten am Flussufer küsst, während auf der anderen Seite Granaten einschlagen. Ein Feuerwerk für die Liebe, völlig bizarr.

In Vorozhbyts eigener Verfilmung des Stücks fehlt diese Szene, da es hierin nicht mehr um die eigene Annäherung ans Geschehen geht, sondern um eine autonome Schilderung des Lebens im Krieg. Der Humor zieht sich, nicht ganz, zurück. Es bleiben beklemmende Szenen übrig, von deren auswegloser Wucht und gnadenloser Tristesse man nun in Tamara Trunovas Inszenierung zwar viel erspüren kann, aber doch nur mittelbar in einer mit Macht zu einem eigenartigen Kunstwillen drängenden Aufführung. Diese kam 2019 am Left Bank Theatre in Kiew heraus, war im Herbst 2021 beim Radar-Ost-Festival am Deutschen Theater Berlin zu sehen, ohne großen medialen Widerhall.

Man kann in Trunovas Inszenierung vielleicht auch lernen, wie unterschiedlich Theaterauffassungen in Europa sein können. Nach hiesigen Maßstäben spielt ihr Ensemble wie aus einer anderen Zeit entlehnt. Es wird gebrüllt und geweint, alle sind mit einer sehr unmittelbaren Körperlichkeit am Werk. Mit dieser erfindet die 1982 geborene Regisseurin immer wieder surreale Bilder, teils choreografiert, teils Slapstick, ein klein bisschen Albtraum. Auf der Bühne ein Autowrack und ein raumfüllender Gitterzaun, an dem man heftig rütteln kann, hinten läuft ein Film, eine nächtliche Autofahrt durch Städte und Wälder, darin schemenhaft hineinkopiert ikonische Bilder, Magritte, Cranach, Füsslis "Nachtmahr". Links führt eine Metallrutsche hoch in eine Tapetenstube mit Jesus-Bildteppich, letzter Ort einer Hoffnung. Permanent dröhnt Musik, mal tänzelnd im Sechsachtel-Takt, meist gerade heraus aufs Pathos zielend, das auch den Schlussapplaus steuert, der zur patriotischen Demonstration wird, das gesamte Publikum (darunter offenbar viele Menschen aus der Ukraine) vereinnahmend.

Ein Schuldirektor gerät in einen Kontrollposten, hat aus Versehen den Pass seiner Frau eingesteckt, die Soldaten treiben bizarre Spiele mit ihm, er zittert vor Angst. Drei Mädchen warten auf die Soldaten, mit denen sie Sex haben wollen. Die Oma schaut eine russische Hochzeitssendung im Fernsehen, die Enkelin erwürgt sie. Eine junge Frau überfährt ein Huhn, will den beiden Alten, denen es gehört, dies bezahlen und gerät in eine Hölle von Gier. Eine Frau überführt den Leichnam ihres Geliebten, eines Kommandeurs, dem die Separatisten den Kopf abschnitten; sie sinnt auf Sex mit dem Fahrer, das Handy des Toten klingelt. Ein Soldat der Separatisten hält ein junges Mädchen im Keller einer Klinikruine gefangen, quält sie, wäscht sie, küsst sie - sie spielt ihm Liebe vor, um zu überleben, und tötet ihn.

Wie auch in ihren anderen Stücken erzählt Vorozhbyt von den Verheerungen im Inneren der Menschen, die der Krieg auslöst. Sie schildert keine Gefechte, sie beschreibt die Verrohung, den Kampf ums Überleben in der vollkommenen Trostlosigkeit. In Trunovas Inszenierung hat man dennoch den Eindruck, man käme mit heiler Haut hier raus, es ist zu viel Kunst im Spiel. Sah man indes Vorozhbyts Film, ist man bis zum Urgrund des eigenen Empfindens verstört.

"Radikal jung", das im deutschsprachigen Raum bedeutendste Festival für junge Regie, gibt es seit 2005, die beiden letzten Ausgaben fielen wegen Corona aus, jetzt wird nachgeholt - fast ausschließlich mit Uraufführungen. Wie "We are in the army now" von Elias Adam (Text und Regie), entstanden im April 2021 am Onassis Stegi, dem avancierten Theater- und Produktionszentrum in Athen. Dies ist eine absolut überzeugende Show von zwei Frauen und zwei Männern, denen man jede sexuelle Orientierung zuschreiben mag, aber garantiert keine Mainstream-normative. Sie sind Superhelden, Popstars und wütend zugleich, sie singen und sind verspielt, sie sind körperliche Ereignisse und vollkommen orientierungslos. Ihre Väter und Mütter verstehen sie nicht, sie tauchen unter in einer realen wie animierten Aura, die sie sich selbst erschaffen, ohne darin zu Hause zu sein. Die Welt geht zugrunde, es wird Zeit für einen Aufstand. Und der ist knallbunt.

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