Rachel Cusks Essayband "Coventry":Wie ein falscher Gott

Rachel Cusks Essayband "Coventry": Heimat ist dort, wo das Schreckliche bereits geschehen ist: die kanadische Autorin Rachel Cusk.

Heimat ist dort, wo das Schreckliche bereits geschehen ist: die kanadische Autorin Rachel Cusk.

(Foto: Alamy Stock Photos / Jonas Ekstromer/TT/mauritius images / Alamy Stock P)

In "Coventry" erweist sich die kanadische Schriftstellerin Rachel Cusk als Essayistin von überwältigender Klugheit.

Von Hilmar Klute

Wenn man den literarischen Sound von Rachel Cusk mit einer kurzen Probe vorstellen möchte, dann ist diese hier geeignet: "Gelegentlich und aufgrund tatsächlicher oder hypothetischer Verfehlungen reden meine Mutter und mein Vater nicht mehr mit mir." Der Kniff dieser Denksprache ist es, den empfundenen Schmerz über den Weg der Versachlichung handhabbar zu machen.

Der Satz stammt aus der Betrachtung "Coventry", der dem schmalen Band mit neuen Essays von Rachel Cusk den Titel gibt. Jemanden nach Coventry schicken, schreibt Cusk, sei eine gebräuchliche Wendung, die jene Art von Kontaktauflösung benenne, mit der Cusks Eltern die Tochter bestraft haben. Natürlich wölbt sich die historische Tragik des realen Coventry, das 1940 von deutschen Fliegerbomben weitgehend zerstört worden ist, über die Metapher.

Rachel Cusk richtet ihre Überlegungen in dieser sozialen Dystopie ein. Sie erzählt von den Verlusten, die das Älterwerden mit sich bringt, die Abnutzung der Ehe, die Entfremdung von den erwachsen werdenden Töchtern. Coventry wird ihr nach und nach zu einer illusionsarmen Heimat, weil in ihm das Schreckliche bereits geschehen ist.

Die kanadische, in Paris lebende Schriftstellerin Rachel Cusk ist eine Spezialistin für die Ausleuchtung privater Katastrophen, die sie mit unmittelbarer sachlicher Analyse in eine allgemein menschliche Wahrheit überführt. Sie hat dafür eine Sprache gefunden, die sich zwischen deskriptiver Exaktheit und poetischem Wagnis bewegt und dabei immer einen beeindruckend axiomatischen Ton anklingen lässt: "Die Gesellschaft ist dergestalt organisiert, dass jene, die die Wahrheit sagen, effizient bestraft, zum Schweigen gebracht oder verleugnet werden. Die Unhöflichkeit dagegen wird willkommen geheißen wie ein falscher Gott."

In diesem Essay über den moralischen Status der Unhöflichkeit geht es um den Kollaps der Sprache, der eine Folge sozialer Ungleichheit ist. Wenn Hillary Clinton die Trump-Wähler als "bedauernswerten Haufen" disqualifiziert, sieht Rachel Cusk darin nur auf den ersten Blick eine kühne Volte der Kandidatin. Genaues Hinhören entlarvt die Beschimpfung als Deklassierung, als moralisches Vergehen, bei welchem dem Individuum der Wert aberkannt wird.

Wie dünn der Firnis ist, auf dem die, sie sagt es von sich selbst, privilegierte Autorin ihre Gewohnheiten im Alltag verteidigt, illustriert die Anekdote einer Kleideranprobe in der Boutique. Die offenbar zur Beflissenheit verpflichtete Verkäuferin wird mit ihrer unablässig bekundeten Dienstbarkeit zur Belastung für die Kundin. Ihre übertriebene Hilfsbereitschaft und ihr ständiges Nachfragen empfindet die Kundin als übergriffig, am Ende lässt sie eine zerstörte, ihrer routinierten Freundlichkeit entledigte Verkäuferin zurück. Die jahrelangen Kämpfe um die Frage, wie eine gerechtere Welt zu gestalten wäre, schnurrt auf den Kompromiss zusammen, gute Umgangsformen als zivilisatorischen Grundstandard zu wahren.

Cusk ist vor allem dann überzeugend, wenn sie sich selbst analysiert

Die Klugheit dieser Essayistin ist deshalb so überwältigend, weil sie niemals mit einer einzigen Wahrheit auskommt. Anders als manche twittergekrönte Publizistin glaubt sie sich auch nicht im Vollbesitz der moralischen Integrität, sondern im Gegenteil: Rachel Cusk geht immer als soziales und philosophisches Mängelwesen durch die Welt. Der Autoverkehr, dessen soziale Strategien sie im ersten Essay zu ergründen versucht, ist nicht nur das oft blutige Schlachtfeld älterer Leute, die bei ihren Fahrfehlern Menschenleben riskieren.

Es ist auch die sündige Meile der Autorin, die den Widerspruch zwischen ethischem Bedenken und der Notwendigkeit aushält, den Kofferraum mit Lebensmitteln aus dem fernen Supermarkt für die Familie vollpacken zu müssen: "Wir akzeptieren unsere Schuld, gedankenlos durch die Dörfer anderer Leute zu rasen, aber in unserem eignen wären wir empfindlich."

Rachel Cusk hat Romane geschrieben, die eigentlich nur belletristische Variationen ihrer essayistischen Poetologie sind. Sie sind auch etwas schwächer als ihre großen Versuche über die Mutterschaft ("Lebenswerk") und die Trennung von ihrem Ehemann ("Danach"). Denn Rachel Cusk ist vor allem dann überzeugend, wenn sie sich selbst in ihren analytischen Aufrissen gleich mit häuten lässt.

Es liegt ein großer Reiz in dem Verfahren, alle Gewissheiten probeweise infrage zu stellen

Das "Danach", also die Zeit nach der Trennung mit all den Erosionen, die sie ausgelöst hat, wird auch in diesem kleinen Suhrkamp-Band noch einmal aufgerufen. Der Schmerz, dem Cusk hier nachfühlt, wird durch einen Zornessatz ihres Ehemannes ausgelöst: "Du nennst dich Feministin!" Und tatsächlich glaubt Cusk, in ihrer gelebten Variante von Feminismus nur eine Trümmerhäufung männlicher Eigenschaften zu erkennen, die sie von ihren Eltern vermacht bekommen hat. "Ich bin keine Feministin", schreibt sie, "sondern ein von Selbsthass erfüllter Transvestit."

Es liegt ein großer Reiz in diesem Verfahren, alle Gewissheiten probeweise infrage zu stellen, die Bequemlichkeit der Übereinkünfte zugunsten durchaus schmerzhaften Erkenntnisgewinns aufzugeben. Die Scheidung ist das Grundmotiv in Rachel Cusks Aufsätzen. Es zieht sich durch alle Themen und wird virulent in den Versuchen der Töchter, sich abzunabeln.

Der Schrecken liegt darin, dass sich der Lebensweg, auf den sich Eltern und Kind festgelegt haben, in der Pubertät plötzlich verzweigt. Man beginnt nun, sich Geschichten zu erzählen, die den gemeinsamen Horizont verlassen. Ein simpler und von den Schrecken der Erkenntnis unberührter Erzähler würde aus diesen Erfahrungen heitere Familiengeschichten basteln. Rachel Cusk macht daraus große existenzialistische Literatur, deren sprachliche Unbarmherzigkeit Eva Bonné verlustfrei ins Deutsche gerettet hat.

Denn der Schrecken, das innere Coventry, ist der Schreibimpuls dieser großen Essayistin in der Nachfolge Virginia Woolfs. Im englischen Originalband stehen neben den Essays auch Kritiken und Aufsätze zur Literatur, darunter faszinierende Porträtskizzen über Francoise Sagan, Edith Wharton, D.H. Lawrence und Natalia Ginzburg. Dass Suhrkamp diese Texte ausgekoppelt hat, mag eine ökonomische Entscheidung sein. Dem Leser wird damit leider der Blick auf die fabelhafte Literaturkritikerin Rachel Cusk verwehrt.

Rachel Cusk: Coventry. Essays, aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp Verlag, 160 Seiten, 21 Euro.

Zur SZ-Startseite

Bücher des Monats August
:Vergangenheit, die uns verfolgt

Macht, Geld, Mütter: Die Bücher, die wir Ihnen in diesem Monat empfehlen, handeln von denkbar größten Themen. Einen Roman hat uns allerdings ein schreckliches Ereignis wieder auf den Schreibtisch gelegt.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: