Qualitätsdebatte bei ARD und ZDF:Wer Sex hat, stirbt

Unser Proband hat zwei Wochen lang durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen gezappt - auf der Suche nach Qualität.

Philipp Weinges

Kennen Sie Rademann? Wolfgang Rademann, den letzten Erneuerer des fiktionalen Erzählens im deutschen Gebühren-Fernsehen? Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat er mit Schwarzwaldklinik und Traumschiff Standards geschaffen, die bis heute das serielle Erzählen im öffentlich-rechtlichen TV bestimmen. Wenn ich meinen pubertierenden Töchtern erzähle, was damals im ZDF begann, sehen sie mich mit erstaunten Augen an und fragen, was das ist, dieses ZDF. Was ist passiert?

ARD-Serie "Geld.Macht.Liebe."

Retro: die ARD-Serie "Geld.Macht.Liebe.".

(Foto: Foto: ARD)

Der Fall Doris Heinze hat zwei Diskussionen über das öffentlich-rechtliche System angestoßen. Eine Debatte zum Thema Machtmissbrauch, die andere zur Qualität im Fernsehen. Die Machtdiskussion ist schnell verstummt, weil die Macht nicht auf der Seite derer war, die sich beklagt haben. Die Qualitätsdiskussion ist noch nicht ganz am Ende, sie wird aber erstaunlich unpräzise geführt.

Mangel an Qualität wird konstatiert, ohne den Begriff zu definieren. Das macht es Fernsehleuten leicht, den Vorwurf zurückzuweisen. Und die Kritiker gehen offensichtlich fest davon aus, dass es nur eine Qualität gibt, die für jeden gelten muss. Natürlich betrifft diese Qualität immer Werke, die sie mögen. Drehbuchautor Fred Breinersdorfer versucht genauer zu sein, indem er den Begriff der Nachhaltigkeit einführt. Das, was lange haften bleibt, ist Qualität. Das versucht er allerdings wieder mit Werken zu belegen, die ihm gefallen. (z.B. Marias letzte Reise)

Um für sich selber den Begriff Nachhaltigkeit zu verstehen, hat der Autor dieses Textes versucht, aus vierzig Jahren Fernsehkonsum jene deutschen Programme herauszufiltern, die bis heute in seiner Erinnerung wirken. Das Ergebnis: Raumschiff Orion. Percy Stuart, Smog, Tatort: Reifezeugnis, Ein Herz und eine Seele, Schwarzwaldklinik, Münchner Geschichten, Monaco Franze, Kir Royal, Berlin, Berlin und KDD. (Die Liste angloamerikanischer Fernseherlebnisse wäre viel länger.)

Ausgeschlossensein

Auffällig ist, dass es sich hauptsächlich um Serien handelt und dass kein Programm in Erinnerung blieb, das zwischen 1986 und 2002 hergestellt wurde. Bis auf Smog war das Ziel aller genannten Produktionen weniger die Vermittlung gesellschaftlicher Relevanz als der Lustgewinn. Ein Herz und eine Seele schaffte beides. Wenn also Qualität Nachhaltigkeit bedeutet, Nachhaltigkeit durch Lustgewinn entsteht, erkennt man dann höchste Qualität am höchsten Lustgewinn? Es folgte ein zweiwöchiger Selbstversuch bei ARD/ZDF auf der Suche nach fiktionalem Lustgewinn. Das Ergebnis war erstaunlich.

Zuerst wandte sich der Proband den Serien zu - dem Genre, das Zuschauerbindung schafft. Doch schon beim Blick ins Programm stutzt man. Beim ZDF: Krimi auf Krimi, Sokos, wohin man schaut. (Die Soko-Reihe wurde übrigens 1978 entwickelt, etwa zur selben Zeit wie die Schwarzwaldklinik, deren Nachfolger in Form von Bergdoktoren, Landärzten und Förstern fast die gesamten restlichen ZDF-Serientermine belegen.) Bei der ARD gibt es weniger Serien, aber die Prinzipien gleichen sich. Geld.Macht.Liebe, ein Aufguss der Guldenburgs (Anfang der achtziger Jahre), die Klinikserie am Dienstag um neun, die Tierärztin oder der Anwalt davor: Der Proband fühlt sich wie jemand, der nach dreißig Jahren in der weiten Welt nach Hause zurückkehrt, wo alles genau so ist wie früher.

An öffentlich-rechtlichen Serien im Hauptabendprogramm sind tatsächlich die fiktionalen Entwicklungen der letzten 30 Jahre spurlos vorübergegangen! Das löst eher ein Gefühl von Ausgeschlossensein aus, als dass es Lustgewinn erzeugt.

Nächstes Versuchsfeld, die anspruchsvollen Fernsehspiele. Dem Probanden fiel schnell auf, dass die Protagonisten häufig für ihre Sehnsucht nach sexueller Lust bestraft werden. Im München-Tatort hängt der verliebte Schwule gleich am Anfang am Baum, im ZDF bringt sich die Schwester der Heldin um, nachdem sie mit ihrem Peiniger geschlafen hat. Zwei Wochen später wird auf dem Fernsehfilm-Platz Hinnerk Schönemann gemeuchelt, nachdem er mit einer Polin rumgemacht hat.

Öffentlich-rechtliche Fernsehdramaturgie folgt also den Gesetzen des Teenie-Horrorfilms: Wer Sex hat, stirbt! Andererseits funktioniert die deutsche Hochkultur seit Hunderten Jahren so. Mussten nicht Ferdinand und Luise in Kabale und Liebe sterben? Leiden wir nicht schwer an Effi Briests traurigem Schicksal, nachdem sie sich dem schnittigen Major von Crampas hingegeben hat?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie sich die Situation verschärft hat.

Wer der Mörder ist

Aber es gibt ja noch andere Wege zum Lustgewinn, zum Beispiel Humor. Hier ging es dem Probanden etwas besser. Er fand zumindest Humor im Münsteraner Tatort. Den Rest der zwei Wochen musste er allerdings darben. Doch haben uns die Wächter der Hochkultur nicht immer schon gesagt, das beste Lachen sei das, das einem im Halse steckenbleibt?

Einfach nur aus einer Laune heraus ohne hintergründigen Sinn zu lachen, ist primitiv. Da das öffentlich-rechtliche Fernsehen weder primitiv sein, noch sein Publikum bestrafen will, verzichtet es in seiner Fiktion weitgehend auf Humor. Ernste Themen müssen ernst verhandelt werden!

Nächster Versuch: intellektueller Lustgewinn durch interessante Anforderungen an den Geist. Die erste diesbezügliche Anforderung an den Probanden bestand darin, die Wahrnehmungsfähigkeit herunterzufahren: Alles, was nach zehn Sekunden verstanden war, wurde mindestens weitere 40 Sekunden lang erklärt.

Jedes Gefühl wurde bis zur Unendlichkeit gedehnt, als gehe man bei den Öffentlich-Rechtlichen von Zuschauern aus, die zum ersten Mal einen Film sehen. Bei einem ZDF-Krimi konnte die wundervolle Frau des Probanden 20 Minuten das Kind ins Bett bringen, um fünf Minuten nach ihrer Rückkehr und 40 Minuten vor Filmende mitzuteilen, wer der Mörder ist.

Und doch - es ist unglaublich - hat unser Proband schließlich noch einen Lustgewinn gefunden. Nicht in den Geschichten, nicht in den Inszenierungen, schon gar nicht in originellen Ideen, nein - in den Schauspielern! Stephan Grossmann als der junge Helmut Kohl, Senta Berger als Frau Böhm, Jan Josef Liefers und Axel Prahl als odd couple im Münster-Tatort - das ist echter Lustgewinn. Ihnen allen lässt die Langsamkeit der Erzählung mehr Raum, sich zu entfalten, als das schnellere Erzählformen tun würden.

Lustfeindlich und retro

Egal, ob man der öffentlich-rechtlichen Fiktion nun Qualität zubilligt oder nicht, man kann auf jeden Fall konstatieren, dass sie lustfeindlich und retro daherkommt. Es ist zu spüren, dass die Macher mit großer Vorsicht vorgehen, um ihr Publikum nicht zu verlieren und niemanden zu verärgern, der ihnen Schwierigkeiten machen könnte. Es ist kein Wunder, wenn nur jene ARD und ZDF treu bleiben, die sich nach etwas Beständigem sehnen, in einer sich dramatisch verändernden Welt. Das sind in erster Linie ältere Menschen.

Dabei ergibt ein Sender, der die Bedürfnisse der Älteren erfüllt, durchaus Sinn. Die Frage ist nur, warum inzwischen das gesamte öffentlich-rechtliche System auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist.

Die Situation verschärft sich. Mit der Werbekrise verschwindet aus den Privatsendern, die für sich reklamieren, Menschen unter 50 ausreichend zu versorgen, die teure deutsche Fiction, besonders die Serie. Es klafft damit eine immer größer werdende Lücke im dualen System.

Wer die TV-Geschichte weltweit betrachtet, wird erkennen, dass sich wirkliche Veränderungen fast immer mit der Gründung eines neuen Senders ergeben haben. Channel 4 hat das englische Filmwunder der Achtziger ausgelöst. RTL hat uns die deutsche Sitcom gegeben, Fox hat die moderne Serie mit Akte X aus der Taufe gehoben, HBO hat sie weiter revolutioniert, Showtime ist noch einen Schritt weitergegangen.

Wenn wir Veränderung wollen, brauchen wir neue Sender mit genug Geld, frische Leute einzustellen und ungewöhnliche Formate zu produzieren. Einen Sender, der nicht auf schnelle Quote angewiesen ist, der Wege gehen kann, die sich für einen kommerziellen Sender nicht lohnen. Er soll keine Konkurrenz zu den Privaten sein, sondern die Lücke im dualen System schließen, die sich von Jahr zu Jahr vergrößert. Eine Art öffentlich-rechtliches HBO.

Wenn der neue Digitalkanal ZDF neo dies sein will, braucht er mehr Geld, eine größere Verbreitung und eigene, originelle Fiktion. Es würde sich auch vorsichtshalber empfehlen, das Wort ZDF aus dem Namen zu nehmen, denn damit verbindet sich nun mal das Image von Rentnerfernsehen. Auf jeden Fall wünscht der Proband dem Sender größtmöglichen Erfolg für diesen Schritt in die richtige Richtung.

Der Autor, 49, ist Produzent, Drehbuchautor und Mitglied des Verwaltungsrates der Filmförderanstalt.

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