Puschkin in Quarantäne:Seine beste Arbeitszeit

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Während der Cholera-Pandemie von 1830 befand sich der russische Dichter Alexander Puschkin drei Monate in Quarantäne und schrieb dort einige der bekanntesten Texte der russischen Literatur. Es war die vielleicht glücklichste Zeit seines Lebens.

Gastbeitrag von Olga Martynowa

Am 31. August 1830 begab sich der russische Dichter Alexander Puschkin, der als Begründer der modernen russischen Literatur gilt, aufs Land, um einige Angelegenheiten zu regeln, die mit seiner bevorstehenden Heirat verbunden waren. Die Hochzeit war gefährdet, weil er der Familie der Braut nicht reich genug war. Er schrieb an die Braut, sie sei nun vollkommen frei, er aber würde entweder sie oder nie heiraten, stellte seine mit der hypothetischer gewordenen Hochzeit verbundenen Bestrebungen jedoch nicht ein und war etwas besorgt, dass sie ihm seine beste Arbeitszeit - den Herbst - verkorksen würden.

Am 3. September kam er in seinem Familienanwesen Boldino an, und siehe da: Er hatte von der Braut einen netten Brief mit einer Zusage erhalten. Gleichzeitig erreichte die in Indien ausgebrochene Cholerapandemie Russland, wo sie fast 200 000 Tote fordern würde (später auch Hunderttausende in Westeuropa und Nordamerika). In manchen russischen Städten kam es zu Unruhen wegen der von der Regierung angeordneten starken Bewegungseinschränkungen und der erhöhten Lebensmittelpreise. Überall entstanden Grenzsperren. Puschkin fand sich von der Außenwelt inklusive der Braut abgeriegelt und verbrachte die vielleicht glücklichsten drei Monate seines Lebens, die unter dem Namen "Boldinoer Herbst" sprichwörtlich für einen kreativen Aufschwung stehen.

Eines der drei Bücher, die er dabei hatte, neben einer russischen Geschichte und einer Übersetzung der Ilias, war eine Sammlung zeitgenössischer englischer Lyrik: "The poetical works of Milman, Bowles, Wilson, and Barry Cornwall". Diesem Band verdankt die russische Literatur ihren prägenden Text zum Thema "Seuche": das kurze Versdrama "Das Gelage während der Pest", in dem Puschkin eine Szene aus "The City of the Plague" von John Wilson zugleich übersetzte und zu einem eigenständigen Werk umarbeitete. Draußen in einer Straße im von der Pest geplagten London feiert eine ausgelassene Gruppe ein makabres Fest. Das kurze Stück umfasst verschiedene Charaktere in ihren verzweifelten Versuchen, Gefahr und Verluste zu ignorieren, in dynamischer Reihenfolge erscheinen Trauer, Angst, Liebe, Frechheit, Mahnungen, Reue, Trotz. Mitten in einem Streit erscheint ein Leichenwagen, der von einem "Neger" geführt wird.

Wie beweint man seine Toten, was bleibt in Grenzsituationen von der Menschlichkeit?

Dass Puschkins Urgroßvater ein Schwarzafrikaner war, der als Kind dem Zaren Peter I. geschenkt wurde und in Russland zum General aufstieg, war für den Dichter ausgesprochen wichtig. Zur schönsten auf Russisch geschriebenen Kurzprosa gehört Puschkins "Der Mohr des Zaren", das zur Enttäuschung vieler lesender Generationen unvollendet blieb. Ich glaube, Puschkin stieß mit großer Freude auf Wilsons Bühnenanweisung "The Dead-cart passes by, driven by a Negro" und setzte diesen "Negro" als sein Selbstporträt ins Bild, wie es Maler manchmal machen; so hat Puschkins Zeitgenosse Karl Brüllow, der Puschkin porträtieren wollte, wozu es leider nicht gekommen ist, sich selbst in seinem monumentalen Bild "Der letzte Tag von Pompeji" dargestellt. Der Wagenführer ist eine wortlose Figur, ein Beobachter, dessen Erscheinung eine Zäsur in der Handlung darstellt, weil unmittelbar danach ein Pfarrer kommt und vergeblich versucht, der Gesellschaft ins Gewissen zu reden. Der Pfarrer wird vertrieben, das Gelage fortgesetzt, nur dessen Vorsitzender bleibt in tiefer Nachdenklichkeit zurück.

Dieses faszinierende Stück ist bis zum letzten Komma interpretiert und kommentiert worden und entgeht trotzdem jeder Interpretation. Wie beweint man seine Toten, wie gehen Menschen, die der gleichen Gefahr ausgesetzt sind, miteinander um, was bleibt in einer Grenzsituation von der Menschlichkeit, wie schnell wirft man eine Zivilisationsschicht ab, unwillkürlich, instinktiv, wie eine Eidechse ihren Schwanz?

Mich hat die Corona-Pandemie zufällig im Edenkobener Tal in der Pfalz erreicht, einem nicht weniger pittoresken Ort als Puschkins Boldino. Die Ruhe, die Puschkin hatte, gibt es dank Internet nirgends mehr, wenn auch alles auf dem Land im Vergleich zu einer Großstadt weniger deprimierend ist. In Frankfurt fiel vor einiger Zeit zum Beispiel zwei Männern, die in der Straße auf zwei junge Asiatinnen trafen, nichts Besseres ein, als ihnen "Corona!" zuzurufen. Die Pfälzer heben ihren Humor für bessere Zeiten auf. Die in den ersten Tagen noch erlaubten Touristen durchqueren die Weinberge. Gestern noch hieß es in den Anweisungen der aktuellen Medienstars, der Virologen: "Möglichst viel an der frischen Luft sein!", heute werden die "Schönwetterflaneure" als "unverantwortlich" gebrandmarkt. Russische soziale Medien sind erschrocken, wie schnell im Westen alle Einschränkungen eingerichtet werden können, und fragen sich, ob das ein globaler Angriff auf die Menschenrechte sei; da sie aber daran gewöhnt sind, die russische Obrigkeit zu kritisieren, sind sie empört, dass sie (bis jetzt) nicht von den gleichen strengen Maßnahmen betroffen sind. Wie werden Länder im Angesicht der Pandemie einander betrachten? Solidarischer? Misstrauischer? Als ich in den Nachrichten las, die Grenzschließung solle nicht nur der Eindämmung des Virus' dienen, sondern auch der Aussperrung der privaten Einkäufer aus dem Ausland, blieb ich in tiefer Nachdenklichkeit zurück, wie "Der Vorsitzende" in Puschkins Stück.

Welches Buch bietet Trost, welcher Film beruhigt die Nerven, welches Kunstwerk weitet den Blick? Empfehlungen für beispiellose Zeiten. (Foto: N/A)

Die blühenden weißen und rosa Mandelbäume und erwachten Insekten lassen an eine der poetischsten Stellen im Koheleth denken: "Der Mandelbaum blüht, / die Heuschrecke schleppt sich dahin, / die Frucht der Kaper platzt, / doch ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus / und die Klagenden ziehen durch die Straßen".

Von der Schriftstellerin und Übersetzerin Olga Martynowa erschien zuletzt der Essayband "Über die Dummheit der Stunde".

© SZ vom 24.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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