Süddeutsche Zeitung

Punkband aus Weißrussland:Töte den Sklaven in dir

"Leute, kriecht aus euren dreckigen Löchern!": In Weißrussland ist eine Punkband zum Sprachrohr der Unzufriedenen geworden. Dabei tritt sie nie in Weißrussland auf. Eine Reise ins russische Smolensk - wo sich den Menschen aus dem Nachbarland die seltene Gelegenheit bietet, sich frei zu fühlen.

Von Tim Neshitov

Man könnte den Alltag von Smolensk, einer Provinzstadt im Westen Russlands, als trist empfinden, vor allem wenn man aus dem Ausland anreist. Auf der Toilette der ältesten Kathedrale der Stadt, Mariä Himmelfahrt, haben Obdachlose ein Schlaflager eingerichtet. Vor der Kathedrale missionieren amerikanische Mormonenmädchen, ihre Nasen laufen in der Kälte, sie bieten der Stadtjugend an, Englisch zu lernen, um zu Gott zu finden und sich die USA anzuschauen. In der Lokalzeitung appelliert der Leiter eines "Zentrums für Heroisch-Patriotische Erziehung" an dieselbe Jugend, für das Wohl Russlands zu arbeiten. So wie Wladimir Putin dies tue.

Es gibt aber Menschen, die Smolensk gar nicht so trist finden. Es sind Menschen, die aus dem Nachbarstaat Weißrussland anreisen. Sie finden in Smolensk eine seltene Gelegenheit, sich frei zu fühlen. Ihre Heimat Weißrussland nennt man im Westen "die letzte Diktatur Europas". Staatschef Alexander Lukaschenko regiert dort seit bald zwanzig Jahren, zuletzt ließ er sich im Dezember 2010 wiederwählen, die Straßenproteste ließ er niederknüppeln. Regimegegner organisierten danach stumme Demonstrationen, da forderte niemand mehr einen Machtwechsel, die Menschen klatschten bloß in die Hände. Lukaschenko untersagte daraufhin öffentliches Händeklatschen. Mehrere tausend Weißrussen sind seitdem festgenommen und wegen Händeklatschens zu Geld- und Haftstrafen verurteilt worden. Auch ein Mann in der Stadt Grodno, der nur einen Arm hat, musste 200 Dollar zahlen.

Die Grenze zwischen Russland und Weißrussland verläuft siebzig Kilometer westlich von Smolensk. An einem grauen Februarnachmittag rollt in Smolensk ein Bus aus Weißrusslands Hauptstadt Minsk ein. Er bringt Fans der weißrussischen Kultband Ljapis Trubezkoj. Die Fans trinken Bier, Whisky und Apfelsaft und rufen "Zhive Belarus!", hoch lebe Weißrussland, einen oppositionellen Slogan. Oppositionell zuerst aus historischen Gründen, denn das riefen bereits Aufständische gegen die russische Kolonialmacht Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute ist der Slogan schon deswegen oppositionell, weil er auf Weißrussisch geschrien wird. Der Autokrat Lukaschenko wuchs in einem Dorf an der Grenze zu Russland auf und beherrscht die Sprache des eigenen Landes nur mäßig. Er spricht lieber Russisch. Deswegen gilt es in Weißrussland bereits als subversiv, wenn jemand etwas auf Weißrussisch schreit, und sei es der Wunsch, die eigene Heimat möge hochleben.

Die Fans reisen nach Möglichkeit nach

Die Band Ljapis Trubezkoj bringt die gärende Stimmung in Weißrussland unumwunden zum Ausdruck. "Leute, kriecht aus euren dreckigen Löchern!" singt sie. "Auf zur Sonne, raus aus den dunklen Höhlen!" Der Frontman Sergej Michalok hat Alexander Lukaschenko in einem Interview "Genozid am weißrussischen Volk" vorgeworfen. Seit zwei Jahren steht die Band ganz oben auf einer schwarzen Liste von Künstlern, die in Weißrussland nicht auftreten dürfen und in den staatlichen Medien ignoriert werden. Gegen Michalok läuft ein Verleumdungsverfahren. Er lebt nun in Moskau, und als im vergangenen Herbst sein Vater starb, reiste er inkognito nach Minsk, um das Begräbnis zu organisieren.

Der Popularität von Ljapis Trubezkoj hat das Auftrittsverbot in der Heimat nicht geschadet. Die Band füllt große Konzerthallen in Russland und in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Auch dort fühlt sich das Publikum von der Musik angesprochen. Die weißrussischen Fans reisen der Band nach Möglichkeit nach.

Im Fanbus, der in der Morgendämmerung in Minsk losfährt, sitzt zum Beispiel Igor (alle Namen von der Redaktion geändert), 26 Jahre alt, Lokführer bei der weißrussischen Bahn. Er trägt einen Schal des FC Köln - nicht weil er ein Fan von FC Köln ist, sondern weil der Schal weiß-rot ist, er erinnert an Weißrusslands historische Nationalfahne aus den Jahren 1918/19 und 1991 bis 1995. Lukaschenko schaffte diese Fahne ab, die jetzige ist rot-grün, wie einst die Flagge der Weißrussischen Sowjetrepublik, nur ohne Hammer und Sichel.

Igor beginnt zu trinken, sobald es draußen hell wird, und er beginnt zu singen. "Wer bist du? - Einer von euch, von hier. / Was willst du? - Ein besseres Los." Das ist das Eröffnungslied des jüngsten Albums von Ljapis Trubezkoj, ein Dialog zweier Stimmen, die sich sehr laut und stoßartig miteinander unterhalten, als stünden sie auf zwei weit voneinander entfernten Bergspitzen: "Was für ein Los willst du? - Brot, Salz / Und was willst du sonst? - Boden, Freiheit. / Was willst du sein? - Ich will kein Vieh sein."

Igor singt in diesem Dialog beide Stimmen, und als sich die anderen Fans ihm anschließen und auch jeweils beide Stimmen singen, hört Igor auf zu singen. Er fängt an zu brüllen. "Brot! Salz! Boden! Freiheit!" Das Lied basiert auf einem Gedicht des weißrussischen Dichters Janka Kupala (1882-1942). Er schrieb es im Jahr 1908 während seines Studiums in Sankt Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreichs. Er schrieb es auf Weißrussisch, was bei den Zensoren damals nicht gut ankam. Kupalas Bücher wurden beschlagnahmt.

Der Lokführer Igor hat schütteres Haar und Augen, die auch nach einer halben Flasche Whisky wach bleiben. In den Pinkelpausen organisiert er Gruppenbilder mit rot-weißen Fahnen am Rande der verschneiten Autobahn. Sein Freund Alexander, 24, trinkt weniger und singt leiser. "Du denkst wohl, wir saufen hier alle aus Spaß", sagt Alexander. "Eigentlich sind wir alle anders. Wir haben einen Beruf, manche haben Kinder. Wir sind alle denkende, fühlende Menschen. Aber ab und zu muss jeder Mensch ausspannen. In Weißrussland kann man nicht ausspannen, wenn man ein denkender und fühlender Mensch ist."

Alexander ist Luftfahrt-Ingenieur, er erzählt, wie er in der Schule gezwungen wurde, der Republikanischen Jugendunion beizutreten, einer Art Lukaschenko-Jugend, damit er studieren durfte. An der Universität trat er aus der Union aus und fing an, Weißrussisch zu sprechen. Er verlor sein Stipendium und seinen Platz im Studentenwohnheim. Im vergangenen April wurde Alexander von Polizisten zusammengeschlagen. "Ich stand auf der Straße, alleine und mit der weiß-roten Fahne. Es war der Tschernobyl-Gedenktag. Sie warfen mich in ihren Minivan und prügelten mich unter die Bank. Ich lag unter der Bank, und sie traten auf mich ein. Dann saß ich 24 Stunden auf dem Revier. Und dann ließen sie mich frei, ohne Anklage. Ich kann mich in diesem Land nicht entfalten. Ich lerne nun Deutsch."

Die Fans, die am lautesten singen, sitzen im Doppeldecker oben, auf den hinteren Sitzen. Der Lokführer Igor stellt sich gerne in den Gang mit dem Gesicht gegen die Fahrtrichtung und gibt den Chorleiter. Wenn er nicht brüllt, sondern singt, dann blickt Igor zur Busdecke hinauf, sein spitzer Adamsapfel lugt aus dem FC-Köln-Schal hervor. Igor kann gut singen. Es gibt eine Ballade von Ljapis Trubezkoj, sie heißt "Spiel", bei der klettert Igors tiefe Stimme sehr hoch und schlittert dann sanft herab: "Nedse lja raki, dse na mae brodu scherije byki tantschut karagody." Auf deutsch: "Irgendwo am Fluss, wo es keine Furt gibt, tanzen graue Stiere einen Reigen (. . .) Diese Stiere haben ihre eigene Wahrheit: Sie brauchen keine Sonne, die Dunkelheit genügt ihnen. Sie brauchen keinen Frühling, der Winter soll ihretwegen länger dauern - damit du, Bursche, länger in Unfreiheit pennst ( . . .) Spiel! Spiel! Verjag die Stiere, und das Glück kommt zurück."

"Und du? Du hast mich sitzen lassen"

Die Fahrt nach Smolensk dauert sieben Stunden, kurz nach Mittag verstummt Igor, er setzt sich hin und isst sauere Gürkchen aus einer Tupperdose. Die Gürkchen hat Natalia mitgebracht, 34, Angestellte bei der Stadt Minsk, Kulturreferat. Natalia hat eine sechzehnjährige Tochter und würde am liebsten auswandern, aber sie weiß nicht wie und wohin. "Meine Tochter kennt keinen anderen Präsidenten außer Lukaschenko. Ihr ist langweilig, und das macht mich sehr traurig."

Es sind auch Fans im Bus, die mit ihrem Leben zufrieden sind. Wladimir, 26, IT-Ingenieur bei einer amerikanischen Firma sagt: "Leute, hört auf zu jammern. Jeder sagt, der Präsident ist scheiße, alles ist scheiße. Dann tut doch selber was." Wladimir hat Schluckauf. "Nicht jeder ist IT-Ingenieur bei einer amerikanischen Firma", sagt Natalia. "Gut", sagt Wladimir, "ich höre auch gerne Ljapis. Es hat für mich halt keine geistige Bedeutung, oder gesellschaftliche. Ist einfach gute Musik. Unterhaltung."

Ljapis Trubezkoj entstand 1990 als ein loses Punk-Kollektiv, dem immer wieder ohrwürmige, belanglose Refrains gelangen. Einer der Hits aus den Neunzigern, die quer durch das untergegangene Sowjetreich dröhnten, ging so: "Ich las dir Gedichte vor, kaufte dir teures Gebäck, ich fuhr dein dummes Hündchen Gassi. Und einmal, du kannst dich bestimmt erinnern, schenkte ich dir einen ausländischen Kaugummi. Und du? Du hast mich sitzen lassen. Du, du, du. "

Von der Politik hielt sich die Band lange Zeit fern. Sergej Michalok trug bunte Sakkos und einen dekadenten Schnauzer, er wog 110 Kilo. Die Wandlung kam vor sechs Jahren. Michalok hörte auf zu trinken, rasierte den Schnauzer ab und fing an zu boxen. Das Album "Kapital" von 2007 war ein Manifest gegen die Globalisierung: "Ich esse zum Mittag Goldbarren, Diamantendessert, Ölsahne. Ich heiße Beelzebub, bin der Hausmeister der Stratosphäre, bin unglaublich cool."

Nach den Dezemberprotesten von 2010 gab Michalok, damals 38, ein Interview in einem russischen Internetsender. "Lukaschenko ist ein Lügner, Dieb und Ignorant", sagte er. "Ein Mensch, der sein Volk hasst und im besten Fall ein gerechtes Gerichtsverfahren verdient. Jeder Mensch, der lesen und bis zehn zählen kann, würde dieses Land besser regieren." Seit "Kapital" hat Ljapis Trubezkoj fünf Alben aufgenommen, allesamt rebellisch, und wenn man heute auf die Internetseite der Band geht, erscheinen in der Diskografie nur diese fünf Alben. Die Neunziger-Jahre-Hits erscheinen nicht mehr.

Vor dem Konzert in Smolensk gehen die Fans essen, sie verteilen sich auf die wenigen Restaurants und Kneipen nahe der Konzerthalle, sie überfluten sie, verlangen nach weißrussischem Kartoffelpuffer, "dem besten Kartoffelpuffer der Welt", bestellen Wodka und Bier und singen das melancholische Lied über Stiere, die im Reigen tanzen. Sie schlagen den Rhythmus mit Gabeln auf ihre Teller. Für Sergej Michalok ist es das dritte Konzert in Smolensk. Aus dem Fenster seiner Umkleide sieht er eine der Bars, in der weiß-rote Fahnen geschwenkt werden. "Beim ersten Konzert waren die Russen verstört, sie verstanden nicht, was der ganze Wirbel soll. Nun singen sie mit. So sieht Völkerfreundschaft aus."

"Wir sind ja weder U2 noch Scorpions"

Michalok spricht schnell, aber ruhig. "Es brodelt in vielen Ländern, in denen wir auftreten. Deswegen kommt unsere Musik zum Beispiel in Russland gut an. In Russland wird der Stalinismus wiederbelebt. Uns lassen die Russen nur singen, weil sie schlauer sind als Lukaschenko. Der Adler fängt keine Fliegen. In Weißrussland wurden wir erst zu Helden, nachdem diese ernsten Herren mit Krawatte und Blaulicht uns verboten hatten. Sie hatten auf Clowns reagiert, das war ihr Fehler. Nun hören uns sogar Menschen, die unsere harten Rhythmen schwer ertragen, wir sind ja weder U2 noch Scorpions."

Dass seine Musik in Europa unbekannt ist, wundert Michalok nicht. "Wir leben noch im Mittelalter, im Feudalismus. Europa hat schon seine bürgerliche Renaissance erlebt. Dort kämpfen linke Menschen wie wir bereits gegen Windmühlen. Und das, was hier musikalisch innovativ ist, kennen die Europäer auch längst."

Bei seinen Konzerten hält Michalok keine politischen Reden, er ruft niemanden zu Demonstrationen auf und nimmt auch nirgendwo an Protestmärschen teil. "Wir sind für eine Revolution im Bewusstsein", sagt er. "Unser Kampffeld ist nicht die Straße, sondern die Bühne. Auf der Bühne führen wir einen permanenten Partisanenkrieg, um jede Person." Einer seiner Songs, bei denen die Fans in Smolensk synchron in die Luft springen, heißt "Töte den Sklaven": "Es ist schwer, stolz zu sein. Es ist schwer, tapfer zu sein. Der Sklave hält dich am Hals fest. Der Sklave lebt in jedem. Töte den Sklaven, töte den Sklaven in dir!"

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Quelle:
SZ vom 16.03.2013/ihe
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