Süddeutsche Zeitung

Prügelstrafe:"Man erzeugt ein williges Werkzeug"

Der Hirnforscher und Psychologe Gerald Hüther von der Universität Göttingen über die Folgen der systematischen Züchtigung von Kindern.

Florian Götz

sueddeutsche.de: Herr Prof. Hüther, Sie haben sich das Buch Wie man einen Knaben gewöhnt angeschaut. Die Autoren erklären dort unter anderem, wie man Kinder mit einer Rute züchtigen sollte, um ihnen Gehorsam beizubringen - und berufen sich dabei auf das Wort Gottes. Was sagt ein Hirnforscher dazu, der sich mit der Entwicklung von Kindern beschäftigt?

Gerald Hüther: Was in diesem Buch empfohlen wird, ist das Abrichten durch Strafe, eine Dressur über Schmerz und Angst. Die Erwachsenen, die sich daran orientieren, haben eine konkrete Vorstellung davon, wie ihr Nachwuchs zu sein hat und die Kinder werden Objekte von Erziehungsmaßnahmen, die das Ziel haben, sie genau dorthin zu bringen: Sie müssen funktionieren. Diese Haltung findet man gerade in Gemeinden oder Gesellschaften, deren Grundlage von den Mitgliedern nicht in Frage gestellt werden darf: So ist es, und nicht anders.

sueddeutsche.de: Und das funktioniert?

Hüther: Wenn Kinder geschlagen werden, spüren sie Angst und Schmerz. In diesem Zustand ist keine Selbstreflektion mehr möglich. Es gibt nur noch drei Reaktionsmöglichkeiten: Flucht, Angriff oder ohnmächtige Erstarrung. Kinder spüren sich in dieser Situation nicht mehr selbst. Sie hinterfragen nichts mehr. Sie internalisieren die Einstellung ihrer Eltern, folgen dem, was ihnen vorgebetet wird und haben dann kaum noch eine Chance, aus dem System auszusteigen.

sueddeutsche.de: Man bricht den Willen des Kindes . . .

Hüther: . . . und erzeugt ein williges Werkzeug. Wenn das Kind nicht genug Kraft hat, sich zu wehren, dann identifiziert es sich mit dem, was es zu werden gezwungen worden ist. Eigentlich sind Kinder ja als kleine Entdecker und Gestalter unterwegs. Wird ihnen versagt, dies auszuleben, müssen sie ihre Sehnsüchte danach von ihrem Selbst gewissermaßen abspalten. Die Kinder unterdrücken dann ihre Bedürfnisse und internalisieren die Einstellung ihrer Eltern. Sie werden zu folgsamen, gut funktionierenden Menschen ohne eigene Persönlichkeit und eigene Bewertungsmaßstäbe.

sueddeutsche.de: Sie werden zu angepassten Gemeindemitgliedern.

Hüther: Sie haben dann kaum noch eine Chance, aus dem System auszusteigen. Und sie geben das, was sie verinnerlicht haben, an die eigenen Kinder weiter. Etwa dass die Theorien, die die Grundlage der fundamentalistischen Gemeinde bilden, keinesfalls in Frage gestellt werden dürfen.

sueddeutsche.de: Was genau das ist, was sich die Autoren dieses Buches offenbar wünschen.

Hüther: Auf diese Grundlage stützen sich alle autoritären Systeme. Auch die Nationalsozialisten konnten auf die Konsequenz einer autoritären Erziehungsstrategie aufbauen, also auf die Unterwerfung unter einen unreflektierten Gehorsam in Verbindung mit Schmerz- und Gewalterfahrung.

Solche Kinder erleben sich ohnmächtig und funktionieren dann vielleicht im Elternhaus und der Gemeinde. Wenn sie aber Gelegenheit haben "eigenverantwortlich" zu handeln, dann neigen sie zu Wutausbrüchen, zu selbstverletzendem und anderem zerstörerischen Verhalten. Die blasen draußen dann Frösche auf, bis sie platzen. Wir brauchen deshalb Erwachsene, die Kindern die Chance geben, sich zu entfalten. Man muss Grenzen setzen, aber man muss vor allem mit dem Kind mitgehen, sich mit ihm freuen, statt zu strafen oder zu belohnen.

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