Mit wohliger Faszination hat man sie in den letzten Monaten beobachtet, und inzwischen ist sie schon zu einer festen Formel geworden: die "neue bürgerliche Protestkultur". Am Hauptbahnhof in der verbauten Stuttgarter Innenstadt und an anderen Konfliktstellen des Landes soll sie plötzlich entstanden sein.
Die Formel ist, wie es immer wieder beim Begriff des Bürgerlichen geschieht, unsauber und irreführend. Denn es sind die zwei Farben des Bürgerbegriffs darin vermengt: das Bürgerliche im politischen, gemeinschaftlichen Sinne (wie in "Bürgerrechte", "Bürgerinitiative") und das Bürgerliche im sozial-distinktiven Sinne (wie in "Bürgerlichkeit", "Bürgertum", "bürgerliche Kultur"). Trennt man die beiden Farben - also den Citoyen und den Bourgeois - voneinander, wird die nunmehr so beliebte Formel aber auch nicht richtiger.
Zunächst der Bürgerbegriff im engeren Sinne. Man findet es irgendwie ganz toll, dass "Bürgerliche" - die sich nach traditionellem Verständnis mit Familienstolz, Bildungsanstrengung, Wohnformen und so weiter vom Arbeiter und Kleinbürger absetzen - jetzt so leidenschaftlich demonstrieren, vermeintlich im Sinne der Gemeinschaft.
Dabei wird einiges übersehen: Eine eindeutig dem gesamt- oder mehrheitsgesellschaftlichen Interesse entsprechende Wahl von politischen Handlungsoptionen lässt sich bei einem Bahnhofsbau oder Bahnhofsnichtbau gar nicht ausmachen, somit auch kein Engagement für das Gemeinwohl - anders als beispielsweise bei der Frage, ob man das Kindergeld für Besserverdienende abschaffen sollte, was eindeutig dem Gemeinwohl nützlich wäre.
Außerdem ist die Zuschreibung von "bürgerlicher" Distinktion an einige Protestwillige überhaupt nicht mehr an den tatsächlichen gruppenspezifischen Unterschieden festzumachen. Diverse unbürgerliche, egalisierende Verhaltensweisen, Konsumformen und Lebensstile sind nämlich längst in die oberen Mittelschichten für immer tief eingedrungen: Jeans, AC/DC, Verzicht auf kanonische Bildung, Verzicht auf Hausmusik, Verzicht auf noch so äußerliche kirchliche Bindung; dazu Fernsehen, Aldi, Patchwork-Beziehungen, Abstiegsangst, Fußballinteresse, Selberkochen. Das heißt: Ein Perlenohrring, eine Steppjacke und ein Mercedes machen noch nicht "bürgerlich" - bürgerlich in der alten, aber immer noch mitschwingenden quasi-ständischen Bedeutung.
Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie partikuläre Interessenvertretung mit der Sorge um das Gemeinwohl verwechselt wird.
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Damit ist keineswegs gesagt, dass es keine sozialen Unterschiede oder auch "Klassen" mehr gebe; aber soziale Stellung und habituelle Prägung sind nicht mehr so eng miteinander verbunden. "Im Zug der Durchsetzung und Weiterentwicklung der Bürgerlichen Gesellschaft wird die bürgerliche Gesellschaft ,entbürgerlicht'", schrieb schon vor längerem der Soziologie M. Rainer Lepsius. Über diesen Prozess lässt sich in einem kürzlich von Heinz Bude und anderen herausgegebenen Band Einiges aus der heutigen Forschung nachlesen: Das Buch heißt "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" ( Fink Verlag, München 2010).
Leere Partizipationshoffnungen
Zweitens ist die Formel "Neue bürgerliche Protestkultur" auf die andere, allgemeinere Bedeutung des Bürgerlichen zu befragen, welche Einsatz für das Gemeinwesen impliziert oder zumindest Teilnahme daran. Damit ist die große Fiktion der repräsentativen Demokratie berührt, das also, was man ihren Fluch und Segen zugleich nennen kann. Drückt doch der positiv aufgeladene politische "Bürger"-Begriff Aktivität in öffentlichen Dingen aus, und zwar auch dann, wenn diese Aktivität vom Einzelnen kaum oder gar nicht entfaltet wird.
In der repräsentativen Demokratie will man idealiter nicht, dass das Geschehen von Partikularinteressen und punktuellen Stimmungen bestimmt wird, will aber doch, dass die Politik einer Präferenz für eine gewisse Ausrichtung der Gesellschaft folgt. Genau für diese Art der Willensbildung waren eigentlich mal die Parteien und die Parlamente gedacht. Die Grünen in Baden-Württemberg haben also einerseits recht, wenn sie sagen, Demokratie bestehe nicht nur aus gleichsam tauben Beschlüssen von Gremien, Demokratie finde vielmehr jeden Tag statt; andererseits hat diese Behauptung aber auch ein völlig fiktives Moment, denn folgte Politik nur den Tagesstimmungen und hinge sie von der permanenten Aktivität aller Wähler ab, dann wären weder Regierung noch Repräsentation möglich.
Insofern knüpfen sich an den Hinweis auf "bürgerlichen Protest" in vielen Kommentaren auch leere Partizipationshoffnungen. Es ist der alte, schöne, aber als unerfüllbar anzusehende Wunsch, Demokratie dürfe sich nicht bloß in (oligarchieverdächtigen) Verfahren, einer wachen Öffentlichkeit und dem Schutz von Grundrechten ausdrücken, sondern es müsse darüberhinaus eine "Demokratisierung" der ganzen Gesellschaft bis in ihre letzten Winkel erreicht werden.
Assimilierend aufgesaugt
Aber machen wir uns doch nichts vor: Die allgemeine Beteiligung an demokratischen Prozessen außerhalb von Wahlen ist und bleibt marginal, der Privatismus ist sogar immer stärker geworden. Man kann die Proteste auch als Kompensation vorangegangener legitimer Nichteinmischung betrachten.
Natürlich braucht die demokratische Teilhabe immer gewisse Ressourcen ihrer Vitalisierung oder wenigstens kritische Aufmerksamkeit; aber dies will und muss nicht jeder jeden Tag leisten. Weil aber manche unbedingt in gegenwärtigen Protesten und Lokalplebisziten eine Wiederbelebung umfassender Partizipation entdecken wollen -ihren alten Traum, vielleicht noch von der südwestdeutschen Revolutionstradition befeuert -, so sind sie bereit, spießigen Anwohnerwiderstand und partikuläre Interessenvertretung mit der Sorge um das Gemeinwohl zu verwechseln und gerne in Kauf zu nehmen, dass sich plumpe antipolitische Ressentiments bis in die Mitte der Gesellschaft fressen.
Bleibt noch das Dritte, was an der Formel "neue bürgerliche Protestkultur" fragwürdig ist: Sie ist nicht "neu". Schon die systemkritischen und liberalisierenden Proteste und Reformexperimente in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit, bis hin zum Terrorismus, speisten sich großteils aus einem bürgerlichen Milieu, das diesen Namen noch viel eher verdiente als heute.
Auch dass jetzt enttäuschte CDU-Wähler die damals erprobten Protestformen und Sponti-Techniken übernehmen, ist nicht so überraschend: Diese Art der Übernahme haben sie beispielsweise mit der Produktwerbung gemeinsam, ja mit der gesamten Gesellschaft, die den Pop- und Selbstverwirklichungs- und Dissidenz-Habitus der einstigen Revolten assimilierend in sich aufgesaugt hat.