Süddeutsche Zeitung

Prosa:Im großen Textgehäuse

Christophe Boltanskis autobiografischer Roman über die Familie als Kollektivwesen und das Wohnhaus als unendlichen Zwischenraum der Improvisation.

Von Alex Rühle

Die Geschichte, die diesem Buch seinen Titel gibt, kommt erst auf Seite 221, tief geschützt im Inneren des Textes und des Hauses, das darin beschrieben wird, nach und nach, Schritt für Schritt, so sorgfältig, dass das Buch dessen Architektur gewissermaßen nachformt: "Das Versteck" ist gegliedert nach den verschiedenen Räumen dieses Hauses in der Pariser Rue de Grenelle. Die Kapitel heißen "Küche", "Arbeitszimmer", "Salon". Man erkundet sie langsam, auf der Suche nach Lebens- und Gebrauchsspuren, was recht schwierig ist bei einer Familie, die so wenig an Dingen hängt, dass dauernd etwas verschwindet, und die Fotos kategorisch verpönt, zeigen sie doch immer nur Dinge, die nicht mehr sind. Da dieser Erzähler also keine Bilder zur Verfügung hat, um die Geschichte seiner Familie zu erzählen, blättert er eben die Räume auf wie ein Erinnerungsalbum. Er stellt den Kapiteln sogar jeweils Skizzen der verschiedenen Zimmer voran, sodass das Haus am Ende vor einem liegt wie ein Lageplan oder "ein Cluedo-Spiel", wie er selber schreibt, ein Spiel, bei dem man die Mordwaffe suchen muss.

Einen Ehestreit vorgespielt, um ein Versteck im eigenen Haus finden zu können

Der Ort, den man auf Seite 221 erreicht, heißt bei allen Bewohnern des Hauses nur der "Zwischen-Raum". Der Erzähler nennt diesen Schlupfwinkel neben der Treppe den "Nabel der Rue de Grenelle", so als sei das ganze Haus ein großer Körper, ein Lebewesen, das seine Bewohner schützend umschließt. So war es wohl auch, in mehrfacher Hinsicht. Zunächst rettete der "Zwischen-Raum" Étienne Boltanski das Leben. Étienne, Nachkomme russisch-jüdischer Migranten, Chefarzt an einem großen Pariser Krankenhaus, versteckte sich hier 18 Monate lang vor den Nazis und vor seinen Kindern, die vielleicht geplaudert hätten, wenn sie um sein Versteck gewusst hätten. Die Eltern hatten ihnen und den Nachbarn 1942 einen Ehestreit nebst türenschlagendem Auszug des Vaters vorgespielt. Étienne kam noch in derselben Nacht zurück und harrte dann in diesem Verschlag aus. "Kaum ein Zimmer. Eher ein Weg. Eine Lücke, die nichts ähnelte."

Im Grunde wurde nach dem Krieg das ganze Haus zu solch einem Zwischen-Raum, einer Lücke, die nichts ähnelte, einem Versteck vor der Außenwelt. Das Kraftzentrum des Hauses ist Marie-Élise, Étiennes Frau, die als Kind von ihrer Familie zur Adoption freigegeben worden war und sich nach diesem Sturz in die totale Einsamkeit schwor, ihren eigenen Kindern einen festen Halt zu geben. Die mit 30 Jahren an Polio erkrankt ist, stark gehbehindert war, aber sich immer weigerte, Gehhilfen zu benutzen, und sich stattdessen auf ihren Mann und ihre Kinder stützte, und die die ganze Familie zu einem Gemeinschaftsblock zusammenschmolz. Christophe Boltanski, ihr Enkel, der Autor dieses autobiografischen Romans, wollte ursprünglich gar keine einzelnen Subjekte auftauchen lassen, sondern versuchte in mehreren Schreibanläufen, seine Familie als multiple Einheit zu beschreiben, als einen schwerfälligen Vielfüßler, dessen einzelne Glieder ein riesiges Ganzes ergeben, ein Buch ohne "ich", "er" und "sie". Stattdessen hätte es nur ein unauflösliches "Wir" gegen den Rest der Welt gegeben. Dieses Projekt mag gescheitert sein, das Buch aber, das es an seiner Stelle gibt, ist ein Triumph. Boltanski hat dafür in Frankreich den Prix Femina erhalten.

Französischen Lesern wäre ein Roman über dieses blockhaft-massive Wir vielleicht schon deshalb plausibel erschienen, weil all die prominenten Mitglieder dieser Familie in Frankreich einen kollektiven Spitznamen tragen: "Les Bolts". Christophe Boltanski selbst hat für die Libération als Kriegsreporter und Korrespondent gearbeitet, seit einiger Zeit ist er Chefredakteur des besten Reportagemagazins Europas, XXI. Sein Vater Luc ist Soziologe und Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, sein Onkel Christian ist weltberühmter Künstler, in dessen pseudodokumentarischen Werken es immer wieder um Verfälschung der Erinnerung, das Fragile unserer Lebensentwürfe geht. Dass er eine seiner Ausstellungen, in denen er mit autobiografischen Dokumenten spielte, einmal "individuelle Mythologie" nannte, zeigt, wie skeptisch er allem objektiven Erinnern gegenüber ist. Man kann "Das Versteck" als Kommentar zur Herkunft seines Werks lesen.

Das Haus ist ein Gefängnis, in dem ein jeder tun und lassen kann, was er will

Aber all das, Ruhm, Berufe, Werke, gehören dem späteren sozialen Leben außerhalb dieses Hauses an, und es gibt hier kein Außen, es gibt nur "Das Versteck", den gemeinsamen Raum, in dem diese Familie sich nach dem Krieg verschanzt hatte und in dem sie so etwas wie groteske existenzielle Paradoxien sammelt: Der Arzt Étienne fürchtet sich Zeit seines Lebens vor Blut. Er unterrichtet an der Sorbonne Hygiene, wäscht sich aber nie und rät seinen Söhnen, sich bei Tisch die fettigen Finger an den eigenen Haaren abzuwischen. Sie bewohnen ein Anwesen in einer der renommiertesten Straßen von Paris und hausen darin wie die Clochards. Die Großmutter ist Großgrundbesitzerin, klebt aber jeden Sonntag Plakate für die Kommunistische Partei. Alle sind sie außerordentlich wissensdurstig, die Schule aber ist derart verpönt, dass Marie-Élise ihre Kinder irgendwann abmeldet. Es gibt kaum etwas zu essen, aber jeder ist stets willkommen. Kommen Gäste, "macht man ihnen Platz. Die Frage, ob es für alle reiche, stellt sich nicht. Ich habe Jean-Élie vor zehn Gästen erklären hören: ,Das passt gut! Ich habe drei Schoko-Eclairs gekauft!'"

Natürlich ist "Das Versteck" auch ein Buch über das Trauma des Holocausts und den Nachkriegsantisemitismus, es gibt untergründige Verbindungen zu den Büchern von Robert Bober und Georges Perec, zwei jüdischen Autoren, die den Holocaust in Verstecken überlebten. Und es gibt all die Freunde, die permanent in der Rue de Grenelle vorbeikommen, Juden, die nach dem Krieg Großbürger und Parias in einem sind, Überlebende, existenzielle Schiffbrüchige. "Sie strebten nach nichts als nach Sicherheit und konnten auf nichts mehr vertrauen." Nur hier, im dauerhaften Provisorium der Boltanskis, fühlten sie sich halbwegs daheim.

Leseprobe

Das Wunder aber ist, dass dieses Haus mit seiner schmerzhaften Geschichte zugleich ein Ort der größten denkbaren Freiheit ist, ein Gefängnis, in dem jeder tun und lassen konnte, was er will. Christophe Boltanski, der Enkel, zog es immerhin im Alter von 13 Jahren vor, in dieses Haus zu ziehen. "Ich bin nie so frei und glücklich gewesen wie hier", schreibt er. "Dieser unglaubliche Lebenshunger, die Momente der Trunkenheit, ja der Euphorie. Die Möglichkeit, fast alles zu sagen. Das Licht trotz der Finsternis." Ein Bett hat er dort nie besessen, er holte spätabends, genau wie sein Onkel Christian, einen Schlafsack aus einer Kiste und rollte sich neben dem Bett seiner Großeltern zusammen, während im Fernsehen ein amerikanischer Western-klassiker ihre Träume begleitet.

Christophe Boltanski: Das Versteck. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Hanser Verlag, München 2017. 320 Seiten, 23 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2017
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