Süddeutsche Zeitung

Prosa:Die Scheiben des Saturn

In seinem Buch "Der Atlas der Erinnerung" sucht der Lyriker Norbert Hummelt nach Spuren der Dichter.

Von Ulrich Rüdenauer

Der erste Vers, schreibt der Lyriker Norbert Hummelt in dem Band "Wie Gedichte entstehen", enthalte "das Webmuster des ungeknüpften Teppichs". Das gelte für die Poesie, aber nicht nur für sie. Auch in Hummelts neuem Buch "Der Atlas der Erinnerung", der vierundzwanzig Prosastücke versammelt, ist jeweils dem ersten Satz das Wesen alles Folgenden eingeprägt: "Dann standen wir vor der Absperrung." Oder: "Gewünscht hatte ich mir die Fahrt nach Schlesien sehr lange, richtig geplant war unsere Reise nicht." Oder: "Eine Weile meines Lebens wohnte ich an einem Fluss." Das sind verheißungsvolle Anfänge, die ihr Ziel zwar noch nicht preisgeben. Aber sie setzen einen Ton, geleiten behutsam an all jene Orte, an die es Norbert Hummelt in den vergangenen Jahren gezogen hat, auf der Suche nach selbst Erlebtem und in der Lektüre Erfahrenem.

Mit dem Vater erforscht das aus dem Gedächtnis erwachsende Kind die unerschöpfliche "Stammgegend", die Region rund um Neuss, wo Hummelt aufgewachsen ist. Der Radius erweitert sich für den Jugendlichen bis nach Köln, ein Ritual sind die Pilgerfahrten zum Medienkaufhaus Saturn, das war damals noch ein gigantischer, gut sortierten Schallplattenladen, der ohrenöffnende Entdeckungen ermöglicht. Köln wird dann zum Studienort, eine Stadt, in der in den Achtzigern noch "manche Baulücken aus dem Krieg" wie unsichtbare Denkmäler an den Schrecken gemahnen und die sich überlagernden Erinnerungsschichten des Landes offenbar werden. Schließlich zieht es Hummelt, wie so viele nach dem Mauerfall, in die Hauptstadt, was noch einmal ganz andere Expeditionen ermöglicht - "seit ich in Berlin lebe, verspüre ich doch ein leichtes Ziehen, als könnte in der nahen deutsch-polnischen Grenzregion für mich noch anderes zu finden sein."

Statt der Weltreise tut es hier auch ein Gang durch das eigene Stadtviertel

Immer wieder verwischen sich dabei Zeitebenen und Landschaftsräume - bereits der Titel "Der Atlas der Erinnerung" verknüpft ja Orts- und Vergangenheitserkundung. Leben legt sich zudem übers Lesen und umgekehrt. Verehrte Autoren - allen voran Stefan George und Gottfried Benn, Hermann Lenz und Joseph von Eichendorff - locken Hummelt in deren "Stammgegenden", die längst zu Literatur geworden sind. Manchmal ist nicht mehr zu entscheiden, "ob wir durch den Wald gingen oder durch das Gedicht". Die konkreten Stätten entfalten eine Magie, der sich der Spurenleser schwerlich entziehen kann, halten aber auch sanfte Enttäuschungen bereit. Einmal sucht er ein Haus auf, in dem Stefan George für kurze Zeit gewohnt hat. Die Krokusse blühen, ein Vogel badet in der Regenrinne; das weiße Häuslein scheint geradezu eine Einladung an den Nachgeborenen auszusprechen, sich ihm zu nähern. Er wagt es zu klingeln, die Tür aber wird nicht geöffnet. Unverrichteter Dinge fährt Hummelt, vom Navi dirigiert, "nach Hause" (auch so ein geheimnisvoller Ort, der immer wieder umkreist wird). "Ein Dichter lebt doch nur in seinen Büchern fort, denn 'Häuser, Straßen, Avenuen' sind, wie Marcel Proust schrieb, 'flüchtig, ach! Wie die Jahre.'"

Diese leichtfüßig erzählten und zugleich kunstvoll sich entfaltenden Erinnerungsgänge feiern das Absichtslose, den "kleinen, fast unwillkürlichen Schritt, den ich zu einer bestimmten Stunde unternommen habe" und der unverhofft zu Begegnungen mit Menschen, Landschaften und Büchern führt. Natürlich: Aufmerksamkeit, Wachheit, Beweglichkeit müssen schon da sein; das "Nebendraußen", von dem Hermann Lenz in seinen Büchern spricht, ist eben kein Standort der Teilnahmslosigkeit. Im Gegenteil. Wer abseits steht, vermag eher genauer wahrzunehmen, das Zentrum ebenso wie die Ränder im Auge zu behalten. Er wird vielleicht auch genügend Distanz aufbringen, um den Dingen und den Texten wirklich nah sein zu können. Weltreisen muss er dafür nicht unternehmen. Es genügt zuweilen, das eigene Stadtviertel zu durchstreifen.

Norbert Hummelts Faszination für Landkarten, die ihn schon in der Kindheit ergriffen hat, kommt ihm bei diesen Streifzügen zugute. Sie formt seinen Sinn für Maßstäbe, für Abzweigungen, für Territorien. Und hilft ihm, die Räume in Texträume zu verwandeln. Im entscheidenden Moment muss man allerdings eine zweite Karte über die erste legen oder den Plan einfach auf den Kopf drehen, den Blick überraschend ändern, wie es der von Hummelt zitierte Walter Benjamin in seiner 'Berliner Kindheit' beschreibt: "Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung." Das Fehlgehen und die Irrwege gehören zur Orientierung in der Literatur wie im Leben. Ebenso wie die Sehnsucht, etwas Zurückliegendes - Räume und Zeiten - wieder und wieder zu begehen und in der Sprache zugänglich zu machen. Ein Gedicht solle das Abgesunkene und Vergangene, das weit Entfernte und Verlorene heranholen, hat Norbert Hummelt in seinem Lyrik-Vademekum vermerkt. In seinen Essays gelingt ihm dieses poetische Vorhaben nicht minder.

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SZ vom 27.06.2018
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