Süddeutsche Zeitung

Projekt:Eine Welt im Futur zwei

Das "Ayşe X Staatstheater" ist divers und für jeden zugänglich. Kann es mehr sein als eine Utopie?

Von Nora Voit

Wir haben einfach niemanden gefunden." Das ist einer der Sätze, die viele Theaterschaffende nicht mehr hinnehmen wollen. Gemeint ist: Es gibt keine Menschen mit Migrationshintergrund, auch keine mit Behinderung, und nein, auch keine Frauen, um freie Stellen zu besetzen. Das lässt tief blicken in die Strukturen der Stadt- und Staatstheater, die noch immer an mangelnder Diversität und steilen Hierarchien leiden. Intendanten sind meist weiß und männlich, Menschen mit körperlicher Behinderung kommen auf und hinter der Bühne, auch auf Spielplänen, wenig bis gar nicht vor, und auch Frauen sind noch nicht gleichberechtigt vertreten. Die "Me Too"-Bewegung, die auch die Kulturwelt erfasste, wirkt nur langsam in feste Strukturen hinein.

Wenn man aber im Foyer des Theaters Hoch X bei der Eröffnung des "Ayşe X Staatstheaters" sitzt, könnte man durchaus meinen, es hätte sich einiges getan. Dort präsentieren der Regisseur und Autor Emre Akal und die Dramaturgin Antigone Akgün ihre Vision für ein Theater der Zukunft: Ein Theater, das Rassismus, Sexismus, Klassismus und Ableismus (die Reduzierung von Menschen auf deren Behinderung) überwunden hat und für Chancengleichheit und Basisdemokratie steht. Kann das funktionieren?

Der hochtrabende Begriff "Staatstheater", der gar nicht so recht zu dieser Veranstaltung passt (kein Bürgermeister, kein Tamtam), soll weniger provozieren als verbinden: "Uns war es ein Anliegen, den strukturellen Aufbau einer Theaterinstitution zu überdenken und darüber nachzudenken, ob und wie er sich als offenes Haus in einer Gegenwart oder Zukunft gestalten kann. Es geht darum, Privilegien umzuverteilen", sagt Antigone Akgün. Die Namensgeberin, Ayşe Çetin, ist übrigens auch da. Sie brach einst mit der Schauspielerei, weil sie immer wieder in stereotype Rollenbilder gecastet wurde - und setzt sich seitdem für Frauen- und LGBTQ-Rechte ein.

Vier Tage lang tauschen sich Künstler, Vertreter von Stadt- und Staatstheatern und Menschen, denen der Zugang zu Kulturinstitutionen erschwert wird, darüber aus, wie das ideale Theater aussehen könnte. Forschungsarbeit nennen die Gründer das und sich selbst statt Intendanten lieber "Koordinationsteam". Eine feste Spielstätte hat das "Ayse X" noch nicht - braucht es die überhaupt? Auch so eine Frage.

Manches, das vorstellbar ist, findet sich bereits im Digitalen. Auf ayse-x-staatstheater.de steht ein möglich Spielplan neben Visionen der 85 Mitwirkenden. Hier arbeiten nicht Regisseurinnen, Dramaturginnen und Techniker, sondern ein "Staff", der sich je nach Interesse in "Houses" aufteilt. Menschen mit Liebe zum Text finden sich im "House of Writing" wieder, wer gern auf der Bühne steht, im "House of Performing". Englisch deshalb, erklärt Akgün, weil in der Endung "-ing" etwas Fluides mitschwinge.

Fluide beschreibt auch die Eröffnungsinszenierung des "Ayşe X". In "Nur ihr wisst, ob wir es geschafft haben werden!" versetzt Emre Akal Zuschauer in eine dystopische Zukunft, in der Menschen alles Wissen verloren haben. Die Welt im Futur zwei. Zuerst aber hält ein Vertreter der Gegenwart, Akals Vater Erkin, schnauzbärtig, im Wollpulli und in gebrochenem Deutsch einen berührend unprätentiösen Prolog über die Macht von Sprache, über Freiheit und Liebe. Akal, der mit leiser Stimme spricht, ist nicht hier, um zu performen, sondern, um gehört zu werden.

Die anderen sechs Schauspieler sind Menschlein in hautfarbenen Strumpf-Fetzen (Kostüm: Melina Poppe), gepflanzt auf ein menschenfeindliches Science-Fiction-Setting aus Plastikplanenbergen (Bühne: Xaver Unterholzner). Kultur, Sprache, Solidarität, alles ist darunter begraben. Bis zum ersten gesprochenen Wort vergeht eine lange halbe Stunde. Und als Zuschauer macht man sein Smartphone dafür verantwortlich, dass es einem schwerfällt, da konzentriert zu bleiben. Lose Enden muss man aushalten können, um zu erkennen, was in dieser Inszenierung steckt: eine philosophische Hinterfragung der Gegenwart, seiner Objekte, seiner Sprache.

So versteht sich auch "Ayşe X" als Work-in-Progress, nichts ist abgeschlossen und nicht alles kann beantwortet werden. So zum Beispiel die nicht ganz irrelevante Frage nach der Finanzierung des Theaters. Die verkürzte Antwort: Man arbeite daran. In Gesprächsrunden gibt es Raum für andere "Burning Issues": Wie kann es sein, dass eine Schauspielausbildung für Menschen im Rollstuhl meist schon an den Treppenstufen scheitert? Warum haben Schauspielerinnen und Schauspieler so wenig Mitbestimmungsrecht? Wie sieht Dezentralisierung im Theater aus? Was macht eine Diversitätsagentin? Und wie können alle solidarisch zusammenarbeiten?

In einer Verschnaufpause zeigt sich nur eine der künftigen Herausforderungen für das "Ayşe X Staatstheater" - auf der Toilette. Frauen- und Männerklos sind an diesem Wochenende genderneutral - allerdings hat eins drei Kabinen und eins drei Pissoirs. Noch kann also niemand so tun, als wären alle Barrieren beseitigt. Nicht in der Architektur, nicht in den Köpfen. Die Vision aus dem geschützten Raum in die existierenden Strukturen zu tragen, wird Arbeit, die "Ayşe X" nicht allein bewältigen kann. Sie brauchen die Unterstützung von Politik, Stadtgesellschaft und letztlich auch jener Staatstheater, über die sie jetzt zum Teil die Nase rümpfen. Mit der Präsentation ihrer Ideen aber ist ein erster Schritt getan. Und noch während der Eröffnung werden in Emre Akals Postfach Mails eingehen - von Intendanten und Regisseuren aus Stadt- und Staatstheatern.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2019
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