Pro und Contra:Musicals - kitschiger Kommerz oder großes Gefühl?

Pro und Contra: Kunst oder Schund? Die Musicals (von links) "Phantom der Oper", "La La Land" und "Tanz der Vampire".

Kunst oder Schund? Die Musicals (von links) "Phantom der Oper", "La La Land" und "Tanz der Vampire".

(Foto: dpa)

Der Erfolg von "La La Land" kann nicht darüber hinwegtäuschen: Musicals sind ein Streitthema. Einige halten sie für mutloses Theater mit Gesangseinlagen. Andere finden: Das ist Kunst. Ein Pro und Contra.

Von Elisa Britzelmeier und Antonie Rietzschel

Sechs Oscars, darunter die Auszeichnungen für Damien Chazelle als bester Regisseur und Emma Stone als beste Hauptdarstellerin, und mehr als 350 Millionen US-Dollar an den Kinokassen. Und das alles für ein Musical? "La La Land" ist ein Hollywoodtraum, kommerziell wie künstlerisch. Unsere beiden Autorinnen haben diesen Erfolg zum Anlass genommen, um über das ewige Streitthema Musical nachzudenken - mit zwei sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Contra: Show-Kitsch im Eventpalast

Um zu merken, dass Musicals dem ästhetischen Empfinden jedes vernünftigen Menschen Gewalt antun, reicht ein Ausflug zum Hamburger Hafen. Während auf der einen Seite die neu errichtete Elbphilharmonie glänzt, gebaut für Klassik, Pop und die Ewigkeit, ist das andere Ufer fest in der Hand der Musical-Theater. Goldgelb leuchtet das "König der Löwen"-Logo über der Elbe. Der eine Bau scheint einen Stahlhelm zu tragen, der andere besteht aus Zeltplanen und Scheinwerfer-Alu-Traversen, architektonisch in etwa so ausgefeilt wie ein SPD-Pavillon beim Wahlkampf in der Fußgängerzone von Hinterhuglfing.

Damit sehen die Theater von außen so aus, wie Musicals drinnen viel zu oft klingen: als hätte jemand schnell etwas zusammengezimmert, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld damit zu verdienen.

Den Theatern scheint es einzig darum zu gehen, ein möglichst großes Publikum anzusprechen, dabei darf der Zuschauer offenbar auf keinen Fall überfordert werden. Ein Blick in die Spielpläne reicht: Was auf den Bühnen gezeigt wird, ist entweder die Adaption eines Zeichentrickfilms ("König der Löwen", "Aladdin"), das Bühnen-Remake eines Hollywood-Sing-und-oder-Tanzfilms ("Dirty Dancing", "Bodyguard", "Sister Act") oder ein zusammengerührtes Medley aus Songs von früher erfolgreichen Künstlern, das durch eine krude Story lose zusammengehalten wird ("Ich war noch niemals in New York", "Hinterm Horizont", "Mamma Mia").

Nicht einmal ein klavierspielender Ryan Gosling könnte das deutsche Musical retten

Spannend, mutig oder neu ist hier gar nichts. Gesellschaftlich relevant auch nicht. Und berührend finden das wohl nur Leute, die Bilder mit nachdenklichen Sprüchen auf Facebook posten. Die allermeisten Musicals sind keine Kunst, sondern reiner Kommerz. Da können noch so viele Leute wochenlang für den Musicalfilm "La La Land" ins Kino rennen - was auf den deutschen Musicalbühnen zu sehen ist, könnte nicht einmal ein klavierspielender Ryan Gosling retten.

Auf den Bühnen, warten Glitzer, Glamour und ganz viel Show-Kitsch auf die Zuschauer. Die Musik muss vor allem eines sein: eingängig. Gut, die Kostüme mögen beeindruckend sein. Aber von Regiearbeit kann man kaum sprechen, wenn auf der Bühne einfach ein Löwe zu sehen ist, wo ein Löwe vorgegeben ist. Fans bringen ja gerne das Argument vor, dass der besondere Reiz von Musicals in der Kombination aus Musik, Gesang und Tanz besteht. Man möchte sie packen und ihnen zurufen: Traut euch! Versucht es doch mal mit der Oper! Vielleicht werdet ihr da noch überrascht. Oder bewegt.

Übrigens liegen die Rechte für die großen, erfolgreichen Musicals bei wenigen Firmen. Die nennen sich schon gar nicht mehr "Theater". Sondern "Live Entertainment Unternehmen" und "Live Entertainment Anbieter". Verkauft wird der Musicalbesuch als Erlebnis, am besten noch verbunden mit einer Hotelübernachtung - praktischerweise übernimmt das auch gleich das Theaterunternehmen. Und weil der "König der Löwen" so authentisch ist, verlost das Musicalunternehmen auch noch eine Reise nach Afrika.

Oper, Ballett oder Theater gelten vielen als elitär und überteuert. Dabei sind es die Musicalkarten, die wirklich teuer sind: 50 Euro aufwärts kostet so ein Abend in Hamburg. Nicht einmal Studenten bekommen eine ordentliche Ermäßigung, sie zahlen nur zehn Prozent weniger, und das auch nur an ausgewählten Tagen. Im Wiener Burgtheater dagegen zum Beispiel gibt es den Stehplatz ab 3,50 Euro.

Aber wer so denkt, macht sowieso einen Fehler. Indem er nämlich Kunst als Ware betrachtet und den Theaterbesuch als Event. Für diese Entwicklung haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den Begriff der Kulturindustrie geprägt. Das war 1944, in der Aufführung eines Musicalunternehmens können die beiden Philosophen damals kaum gesessen haben. "Anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen", heißt es in der "Dialektik der Aufklärung" über die Kulturindustrie. "Ihr Musicalerlebnis zum Vorteilspreis", prangt es in Großbuchstaben von den Websites der Veranstalter. Oder wie es Helmut Dietls Serienfigur Monaco Franze sagt, als er nach der Oper im Restaurant sitzt: "Am schlimmsten ist das Publikum, das hinten und vorne von nix was versteht und sogar jeden Reinfall zu einem einmaligen Erlebnis hochjubelt."

(Elisa Britzelmeier)

Pro: Große Kunst und Gesellschaftskritik

Es gibt richtige Schrott-Musicals. "Tanz der Vampire", Polanskis sehr witziger Film etwa, verkommt in der Gesangsfassung zum unerträglichen Vampir-Kitsch, mit Rüschenfummel und schnörkeliger Kulisse. Hinzu kommen völlig schräge Liedzeilen: "Tot zu sein ist komisch". "Tanz der Vampire" ist übrigens im Original ein deutschsprachiges Musical. An der Übersetzung kann es also nicht liegen, dass die Texte so misslungen sind.

Starlight Express verdankt seinen ungebrochenen Erfolg den großartigen Kostümen, der irren Bühnenshow. Die Geschichte ist völlig absurd: Züge treffen sich zu einem Rennen. Dabei verliebt sich eine Dampflok in den Wagen der ersten Klasse. Am Ende werden sie natürlich ein Paar. Darauf würde nicht mal der fanatischste Modelleisenbahner kommen. Doch das ist noch lange kein Grund, die gesamte Kunstform Musical zu verteufeln. Musicals sind große Show, großes Gefühl - aber auch große Kunst. Nicht erst seit "La La Land".

Tonsprünge wie in Mozarts "Zauberflöte"

Andrew Lloyd Webber zählt zu den wichtigsten Komponisten unserer Zeit. Seine Musicals sind komplett durchgesungen und durchkomponiert. Er kommt damit der klassischen Oper sehr nahe. Nur, dass die Schauspieler in Musicals auch noch schauspielern können und nicht nur starr auf der Bühne stehen. Wer gerade wegen dieser Mischung über Musicals die Nase rümpft, dem sei das "Phantom der Oper" dringend empfohlen.

Ein Opernhaus ist hier der zentrale Schauplatz der Handlung. Die wenigen Tanzszenen sind klassische Ballettdarbietungen. Zwischendurch fällt mal der Kronleuchter herunter oder Nebel kriecht über die Bühne. Wichtiger ist aber die Geschichte und die stimmliche Leistung der Protagonisten. Besonders die Rolle der Christine Daee ist sehr anspruchsvoll. In der Arie "Denk an mich" muss sie am Ende mehrere Tonsprünge vollführen, ähnlich wie die Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte. "Cats" wiederum, der Vorläufer des modernen Katzenvideos, vereint Ballett mit klassischem Gesang.

Die Handlungen von Musicals sind auch nicht immer simpel. "Les Misérables" ist eine mehrstündige Adaption des gleichnamigen Romans von Victor Hugo, der vor dem Ausbruch der französischen Revolution spielt. "Aspects of Love" erzählt eine komplizierte Liebesgeschichte und verzichtet völlig auf tolle Kostüme, Tanzeinlagen und Happy End. Stattdessen gibt es Betrug und Verletzungen. "Sunset Boulevard" erzählt die Geschichte einer vergessenen Filmdiva, die im Wahn ihren jungen Lover tötet.

Ursprünglich war "Sunset Boulevard" ein Film, eine düstere Satire auf Hollywood, die schließlich für die Bühne adaptiert wurde. Gesellschaftskritik tragen auch andere Musicals in sich: "West Side Story" ist eine moderne Adaption von Romeo und Julia. Es geht um Hass zwischen US-Amerikanern und Puerto-Ricanern. Hass, der in Gewalt umschlägt und tödlich endet. Es geht um den amerikanischen Traum, um enttäuschte Hoffnungen:

Life can be bright in America/ If you can fight in America/ Life is all right in America/ If you're all white in America

Das Leben kann schön sein in Amerika, wenn du kämpfen kannst und vor allem weiß bist. Zeilen, die wieder wahnsinnig aktuell sind angesichts eines US-Präsidenten, der Hass auf Minderheiten schürt und an der Grenze zu Mexiko eine Mauer bauen will.

"Jesus Christ Superstar" schließlich ist eines der besten Musicals überhaupt. Es erzählt die letzten Tage von Jesus. Beschrieben wird ein Mann, der sich seinem Schicksal ergeben hat. Der Fokus liegt aber vor allem auf seinen Aposteln, die religiösen Fanatikern oder einem Fanclub gleichen. Vor ein paar Jahren führte die Oper Dortmund "Jesus Christ Superstar" auf. Die Hauptrolle spielte Alexander Klaws. Klaws war der erste Gewinner der RTL-Show Deutschland sucht den Superstar. Tausende Teenager berauschten sich an ihm, so lange, bis die Hits ausblieben und neue Sternchen nachrückten. Die Rolle des Messias ausgerechnet mit Klaws zu besetzen, kann man durchaus als geschickten und gesellschaftskritischen Coup sehen.

Und überhaupt: Die Darstellung des Judas im Musical als zerrissene und damit sehr menschliche Figur sorgt bis heute immer wieder für Kritik. 1973 erschien ein gleichnamiger Film, der in der israelischen Wüste gedreht wurde und den damaligen Zeitgeist einfing: die Hippie-Bewegung und die weltweiten Anti-Kriegsproteste. In der Tempel-Szene verkaufen Händler Atomwaffen und Maschinengewehre. Judas läuft einmal vor den Panzern der Römer davon. In einer neueren Bühnenfassung wurden Jesus und seine Apostel zu einer Protestgruppe nach Vorbild von Occupy, das Stück geriet zur Kapitalismuskritik. Musicals sind also ganz nah dran am Zeitgeist. Inhaltlich wie musikalisch.

(Antonie Rietzschel)

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