21. Dokumentarfilmfestival Thessaloniki:Primat des Inhalts

Doku "Normal" von Adele Tulli

Zu voreingenommen in der Auswahl der Impressionen: Szene aus der Adele Tullis Dokumentarfilm "Normal".

(Foto: AAMOD)

Beim diesjährigen Dokumentarfilmfestival in Thessaloniki nehmen sich viele Wettbewerbsfilme ästhetisch innovativ aus, bleiben in ihren Aussagen aber häufig diffus. Die Hauptpreise des Festivals gingen denn auch an genau jene zwei Filme, die mit inhaltlicher Tiefe überzeugten.

Von Paul Katzenberger

Der Leitsatz "Die Form folgt der Funktion" stammt aus dem Produktdesign und der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts und besagt im Wesentlichen, dass alles, was ohne praktischen Nutzen ist, für die Formgebung nicht verwendet werden sollte. Die Besinnung auf den Zweck und der Verzicht auf alles Ornamentale wurden schließlich zu den bestimmenden Merkmalen des Bauhaus-Stiles, der bis heute das Bild modernistischer Strömungen in der Kunst wesentlich prägt.

Besucher des diesjährigen 21. Dokumentarfilmfestivals Thessaloniki konnten mitunter allerdings das Gefühl bekommen, dass der Trend im modernen Dokumentarfilm genau in die entgegengesetzte Richtung geht. Denn die Mehrheit der im Wettbewerb gezeigten Dokus schienen der Devise zu folgen: "Die Funktion folgt der Form".

So konnte etwa das Filmdokument "Normal" der Italienerin Adele Tulli unter ästhetischen Gesichtspunkten durchaus überzeugen, inhaltlich blieb der Film hingegen blass: Wenn die Kamera in langen, ruhigen Einstellungen einen Kurs filmt, der jungen Männern zeigen soll, wie man zum Alphamännchen wird, und einen, in dem Frauen lernen sollen, wie man dem Mann in der Ehe am besten dienen kann, oder sie kreischende Teeniemädchen zeigt, die sich mit dem angehimmelten YouTube-Star ablichten lassen, oder das schmalzige Fotoshooting eines frisch verheirateten Paares verfolgt, und die Perversion einfängt, die in ausufernden Junggesellinnenabschiede liegt, so bekommen die beiden Kamerafrauen Clarissa Cappellani und Francesca Zonars durchaus starke und sprechende Bilder zustande.

Doch Tulli gelingt es nicht, mit ihrer Auswahl von Alltagsszenen die unbewusste Unterwerfung unter Gendernormen zu demaskieren, wie es nach eigenem Bekunden ihr Ziel ist. Denn ihre Selektion von Impressionen ist zu voreingenommen und soll von vorne herein rigide Rollenbilder und die unbewusste Anpassung daran bestätigen.

Zudem bleibt sie oft viel zu sehr an der Oberfläche. Der Bikini-Wettbewerb, den sie etwa zeigt, bestätigt zwar zunächst ein überholtes Rollenklischee, was im Film selbst dann aber deutlich konterkariert wird, wenn die Wettbewerberinnen von ihren Berufsambitionen als Anwältin und Luftwaffen-Pilotin erzählen.

Umschauen, aber nicht fragen

Mit ihrem Versuch, dass die Funktion der ästhetisch fraglos gelungenen Form zu folgen habe, scheitert Tulli daher. Denn, wo ein Minimum an Kohärenz und inhaltlicher Tiefe fehlt, lässt sich am Schluss auch kein Sinn konstruieren.

Das Problem, formal zwar innovativ zu sein, inhaltlich aber diffus zu bleiben, hatten in Thessaloniki überraschend viele Wettbewerbsfilme: In ihrer ersten Langfilm-Doku "Animus Animalis - A Story about People, Animals and Things" scheint Aistė Žegulytė in die Fußstapfen des gerade anschwellenden New Waves litauischer Dokumentarfilme treten zu wollen, der Filmemachern zwar erlaubt, sich umzuschauen, aber um Gottes Willen, keine direkten Fragen zu stellen.

Ein Präparator, der Mitarbeiter eines Rotwild-Geheges und ein Museumsmitarbeiter führen den Zuschauer durch eine bizarre Welt an der Grenze zwischen tierischem Leben und dessen Tod. In Glasvitrinen werden die ausgestopften Tiere möglichst lebensnah dargestellt, während es gleichzeitig so erscheint, als würden sie uns Menschen mit ihren Glasaugen nunmehr für immer anstarren.

"Ehrt die Kreatur, ihr Tiere!"

Doch man kann nur darüber spekulieren, was Žegulytė uns mit ihrer kunstvoll bebilderten Doku (sehr gute Kamera von Vytautas Katkus) sagen will. Als der Zuschauer schon früh im Film einer Unterhaltung mehrerer Weidmänner nach erfolgreicher Pirsch lauscht, wobei der eine zu den anderen sagt: "Ehrt die Kreatur, ihr Tiere!", scheint das Žegulytės Anliegen bereits auf den Punkt zu bringen. Es ist ein Anspruch, dem viele Menschen gegenüber dem Tier ganz offensichtlich nicht gerecht werden, doch die Regisseurin deutet das in ihrem Film immer nur an.

Jury votiert für Filme mit der größten Aussagekraft

Szene aus dem Dokumentarfilm "In Touch" von Paweł Ziemilski.

Visuelle Zusammenführung auseinandergerissener Familien: Szene aus dem Dokumentarfilm "In Touch" von Paweł Ziemilski.

(Foto: FV)

Zu sehr an der Form hing sich in Thessaloniki auch der polnische Regisseur Paweł Ziemilski in seiner Doku "In Touch" auf. Sein Film erzählt von dem Exodus, zu dem es in dem masurischen Dorf Stare Juchy (zu deutsch: "Altes Blut") kam. Ein Drittel der knapp 4000 Einwohner zog wegen besserer Arbeitsmöglichkeiten nach Island, zurück blieben meist die Älteren.

In einer Welt, in der es inzwischen Skype gibt, können die Familien, die auf diese Weise auseinandergerissen wurden, täglich in Kontakt miteinander treten, und Ziemilski gelingt es, das ambivalente Verhältnis aus Nähe und Distanz, das sich daraus ergibt, mit einer gelungenen Bildsprache zum Ausdruck zu bringen: Er lässt die Videoaufnahmen, die Skype aus Island übermittelt, an die Hauswände Stare Juchys projizieren, wodurch die Familien zumindest visuell zusammengeführt werden. Gleichzeitig erinnert die nordische Topographie Islands im Hintergrund der übermittelten Bilder stets daran, dass die Auswanderer tatsächlich weit weg in einer anderen Welt sind.

Das ist formal sehr gelungen, doch obwohl "In Touch" mit einer Länge von 60 Minuten ein relativ kurzer Film ist, wirkt die Doku schnell wie eine einzige Wiederholung. Das, was Ziemilski zeigen will, nämlich wie Menschen mit dieser Form der Trennung umgehen, hätte für einen Kurzfilm ausgereicht. Auch "In Touch" erwies sich so als Film, bei dem der Inhalt zu sehr der Form folgt.

Dass inhaltliche Tiefe aber ein entscheidendes Attribut für einen guten Dokumentarfilm darstellt, ließ sich an der Entscheidung der Jury deutlich ablesen. Denn sie sprach die beiden Hauptpreise des Festivals genau den beiden Wettbewerbsbeiträgen zu, die von ihrer Aussagekraft her am substanziellsten waren.

Der mit 8000 Euro dotierte "Goldene Alexander" ging an die beeindruckende Doku "Advocate" unter der Regie von Rachel Leah Jones und Philippe Bellaiche, die in ihrem Film der israelischen Rechtsanwältin Lea Tsemel ein Denkmal setzen.

Justizsystem mit Schwächen

Die 73-Jährige stemmt sich seit 50 Jahren gegen das Zwei-Klassen-Recht des israelischen Justizsystems, das Palästinenser systematisch benachteiligt, wie "Advocate" anhand eines aktuellen Falls aber auch mit historischem Archivmaterial zu belegen versucht. Dabei hat Tsemel niemals aufgegeben, unverdrossen für die Gerechtigkeit und die Menschenrechte zu kämpfen, obwohl sie ständig Rückschläge einzustecken hatte.

Am Fall eines 13-jährigen palästinensischen Buben, dem wegen eines Messerangriffes versuchter Mord angelastet wird, obwohl er in seinem Alter nach israelischem Recht als strafunmündig gelten müsste, versuchen Jones und Bellaiche die fundamentalen Schwächen eines Justizsystems aufzuzeigen, das aus ihrer Sicht vorgibt, der Gerechtigkeit zu dienen, in Wahrheit aber mit zweierlei Maß misst.

Der Spezialpreis der Jury ging an die Doku "Midnight Traveler", der bereits bei der diesjährigen Berlinale und beim Sundance Filmfestival Preise zugesprochen wurden. Der Film erzählt die Geschichte des afghanischen Regisseurs-Ehepaares Hassan Fazili und Fatima Husseini, das aus ihrem Heimatland fliehen muss, weil die Tabilan auf Fazili ein Kopfgeld ausgesetzt haben.

Das Paar findet keinen anderen Ausweg aus seiner Situation, als sich mit seinen beiden Töchtern Nargis und Zahra auf den Weg der Balkan-Fluchtroute zu machen. Als Filmemacher entscheiden sie gleichzeitig, ihre dreijährige Odyssee über mehr als 5600 Kilometer per Smartphone zu dokumentieren. Daraus ergibt sich ein bemerkenswertes Zeugnis menschlicher Tatkraft. Denn während Fazili und Husseini erleben müssen, dass die Menschen, denen sie begegnen auf sie als Flüchtlinge herunterblicken, sehen sie sich selbst als Künstler. Dass ihnen als solchen gelungen ist, ihr Unglück in eine gelungene Dokumentation zu verwandeln, gibt ihnen die menschliche Würde zurück, die auf ihrer Reise angetastet wurde.

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Szene aus "Advocate"

Setzt sich seit Jahrzehnten für ihre palästinensischen Mandanten ein: Die israelische Rechtsanwältin Lea Tsemel (rechts) auf einer historischen Aufnahme.

(Foto: Festival)

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