Pressefreiheit in China:"Kommen Sie nur"

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Während der Paralympics sollen Journalisten nicht erfahren, mit welchen Problemen Chinas Behinderte in den Dörfern kämpfen. Das Protokoll einer verhinderten Recherche.

Henrik Bork

Dies ist das Protokoll einer gescheiterten Recherche. Die chinesische Staatssicherheit hat sie verhindert. Geplant waren Interviews mit chinesischen Behinderten in der Provinz. Kein einziges konnte stattfinden, weil die Staatssicherheit Gesprächspartner einbestellte und einschüchterte.

China gibt sich stolz bei den Paralympics. Wie es den Behinderten des Landes geht, die fernab der großen Städte leben, das soll aber keiner erfahren. (Foto: Foto: dpa)

Es ist auch das Protokoll eines Wortbruchs. Denn Chinas Regierung hatte ausländischen Journalisten eigentlich versprochen, während der Olympischen und Paralympischen Spiele frei recherchieren zu können.

Mittwoch, 10. September, 10 Uhr

Der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Peking liest in der Lokalzeitung Dazhou Abendzeitung einige Artikel über Behinderte auf dem Dorf. Ihr Leben ist hart. Es ist ein anderes Leben als das der Behinderten in Peking, das anlässlich der Paralympischen Spiele gerade überall geschildert wird.

Der Korrespondent ruft bei der Dazhou Abendzeitung an und bittet um Kontakte. Ein chinesischer Journalist erklärt sich bereit, den Korrespondenten in ein Dorf zu begleiten. "Wir Journalisten sind doch eine große Familie. Kommen Sie nur", sagt er am Telefon sehr freundlich.

Mittwoch, 15:15 Uhr

Der Korrespondent landet in Dazhou. Es ist eine stark verschmutzte Industriestadt in Sichuan mit sechs Millionen Einwohnern. Der chinesische Kollege kommt zum Eingang der Dazhou Abendzeitung. Er ist nervös. Es gebe ein kleines Problem, sagt er. Der Korrespondent müsse sich bei der "Propagandaabteilung" und beim Amt für Ausländerangelegenheiten melden.

Der Korrespondent sagt, diese Regel für ausländische Journalisten sei kurz vor den Olympischen Spielen abgeschafft worden. Es genüge nun die Einwilligung der Interviewpartner. Der chinesische Journalist erwidert, es sei bei ihnen "im Moment alles besonders streng". Höfliche Verabschiedung. Interviews in Anwesenheit chinesischer Beamter, so die Erfahrung, sind meist unbrauchbar. Viele Chinesen haben dann Angst, offen zu reden.

Mittwoch, 18:30 Uhr

Auf der Rückfahrt zum Flughafen telefoniert der Korrespondent mit einer Nichtregierungsorganisation im Ort Zhongxian, ebenfalls in Sichuan. Die Chinesin Chen Yuying, so hatte er gehört, hilft dort trotz ihrer eigenen Behinderung anderen Behinderten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er wolle sie gerne interviewen, sagt der Korrespondent.

Chen sagt, sie werde darüber nachdenken und sich wieder melden. Kurze Zeit später ruft sie zurück und sagt, sie könne derzeit leider keine Interviews akzeptieren. Eine Erklärung gibt sie nicht. "Warum fahren Sie nicht in mein Dorf?", fragt der Taxifahrer, der das Telefongespräch mitgehört hat. "Bei uns gibt es zwei Behinderte, und die bekommen überhaupt keine Hilfe von der Regierung. Es geht ihnen sehr schlecht. Ich fahre sie gerne hin." Der Korrespondent macht kehrt und bucht ein Zimmer im Huaxia King Hotel. Die Abfahrt in das Dorf ist für den nächsten Morgen um acht Uhr verabredet.

Donnerstag, nachts um eins

Im Zimmer 1308 des Huaxia King Hotel schellt das Telefon. Der Taxifahrer vom Vorabend, Herr Li, ist am Apparat. Er könne den Korrespondenten morgen leider doch nicht aufs Dorf zu den Behinderten fahren, stottert er. Der örtliche Parteisekretär habe seiner Mutter davon abgeraten, sagt er. Woher Li die Telefon- und Zimmernummer hat, will er nicht sagen. Unklar ist auch, warum der Parteisekretär so schnell informiert war.

Donnerstag, 8 Uhr morgens

Der Korrespondent isst eine Schale "baomian", wie die gefüllten Teigtaschen in Suppe hier in Dazhou heißen. Nebenbei ruft er Fang Zheng an, einen behinderten Sportler, den er vor einiger Zeit interviewt hatte. Ja, er kenne einen Behinderten auf dem Land, sagt Fang Zheng. Ein junger Mann, der seine Arme verloren habe. Eine zeitlang habe er im Behindertenkader trainiert.

Er habe als Nachwuchstalent im Schwimmen gegolten, doch seine Leistungen hätten dann doch nicht ganz gereicht. Er sei aus dem Sportkader entlassen worden. Jetzt hüte er wieder Schafe in seinem Dorf. Die Familie des Behinderten erklärt sich am Telefon zu einem Interview bereit. Fang Zheng verspricht, mitzukommen. Der Korrespondent macht sich auf den Weg nach Hefei.

Donnerstag, 15 Uhr

Fang Zheng kommt in die Lobby des Internationalen Friedenshotels. Er ist eine Stunde verspätet. "Die Polizei hat mich einbestellt, während du im Flugzeug saßest", sagt er. Sie wüssten, was der gemeinsame Plan sei. Sie hätten auch frühere Artikel des Korrespondenten gelesen.

Sie könnten es Fang und dem Korrespondenten wegen der Olympischen Spiele nicht verbieten, miteinander zu reden, sagten die Beamten. Auch stünde es dem Korrespondenten frei, Behinderte zu besuchen. Aber Fang Zheng solle den Korrespondenten besser nicht aufs Land begleiten, wenn er keine "Schwierigkeiten" bekommen wolle, sagten sie.

Es war eine unverhohlene Drohung, die Recherche aufzugeben. Dass Fang Zheng sich überhaupt traute, von der Einschüchterung zu erzählen, war ungewöhnlich. Die meisten Chinesen hätten an seiner Stelle ein paar Entschuldigungen gemurmelt, am Telefon, so wieder der Taxifahrer in der Nacht zuvor. Fang ist nur deshalb an Kontakt mit der Staatssicherheit und der politischen Polizei gewöhnt, weil seine Behinderung einen politischen Hintergrund hat.

Ein Panzer hatte ihm während des Pekinger Massakers vom 4. Juni 1989 beide Beine abgequetscht. Seitdem darf Fang, obwohl er ein begabter Sportler ist, nicht an internationalen Wettbewerben teilnehmen. Die kommunistische Führung möchte nicht, dass er von ausländischen Journalisten interviewt wird. Er trifft immer mal wieder den für ihn zuständigen Offizier zu einem informellen "Plausch".

Diesmal aber muss die Staatssicherheit den Korrespondenten schon überwacht haben, bevor er in Hefei ankam. Ganz offensichtlich hatte sie seit Tagen das Telefon abgehört. In dieser Situation wäre es unverantwortlich, trotzdem loszufahren und den behinderten Sportler in seinem Dorf besuchen zu wollen. Möglicherweise wäre er "mit unbekanntem Ziel verreist", sobald der Korrespondent nach vierstündiger Fahrt in dem Dorf eintrifft.

Es wäre auch möglich, dass er von der Staatssicherheit eingeschüchtert wird, vor oder nach dem Interview. Unmöglich, unter diesen Umständen mit der Recherche fortzufahren. Der Korrespondent schickt den bereitstehenden Fahrer fort und verabschiedet sich.

Donnerstag, 18 Uhr

Ein letzter Versuch. Per E-Mail meldet sich der Korrespondent bei einer amerikanischen Hilfsorganisation. Sie verteilt seit mehr als sieben Jahren in ländlichen Gebieten Chinas Rollstühle. Vor einem Jahr hatte der Korrespondent bei einer dieser Aktionen Jaida kennengelernt. Die 42-jährige Tibeterin ist Tetraplegikerin, also wegen eines Wirbelsäulendefekts an Armen und Beinen gelähmt. Ihre Schwester hatte sie in einer Schubkarre zum Dorfplatz gefahren. Dort hatte Jaida den ersten Rollstuhl ihres Lebens bekommen. Später hatte der Korrespondent erfahren, dass Jaida im Stall schläft, auf einem Bündel stinkenden Strohs, weil sie ihre Darmfunktion nicht kontrollieren kann.

Ihre Familie ist arm. Viele chinesische Behinderte, das war bei dieser Recherchereise zu erfahren gewesen, besonders die auf dem Land, leben in großer Armut. Nur eine Minderheit kann die Grundschule besuchen. Die meisten bleiben Analphabeten. Wer gelähmt ist, wird in armen Bauernfamilien oft einfach auf ein Bett gelegt und kann das Haus nicht verlassen. "Eine Frau, der wir gerade einen Rollstuhl geschenkt hatten, weinte vor Glück, weil sie zum ersten Mal die Sonne sah", hatte eine der Helferinnen damals erzählt. Oft sieht man auf den Dörfern Behinderte, die sich auf allen Vieren durch den Straßenstaub ziehen. Viele betteln.

Nach offiziellen Angaben gibt es in China 83 Millionen Behinderte. In den Städten hat sich ihre Lage in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten gebessert. In Peking und sogar in der Provinzhauptstadt Hefei werden jetzt sogar behindertengerechte Ampeln aufgestellt. Doch der Großteil der Behinderten in China lebt auf dem Land. Sie bekommen kaum Unterstützung vom Staat. Korrupte örtliche Beamte der kommunistischen Partei veruntreuen vielerorts das für die Behinderten gedachte Geld.

Donnerstag, 19:30 Uhr

Die Antwort kommt per E-Mail. Auch die amerikanischen Helfer winken ab. In diesem Jahr ist ihnen das Verteilen von Rollstühlen untersagt worden. Eine Gruppe von Freiwilligen war im April so wie in jedem Jahr angereist, musste jedoch unverrichteter Dinge wieder abfliegen. Die rund 100 Rollstühle sind nun eingelagert. Vielleicht können sie nach den Paralympischen Spielen verteilt werden, hofft die Gruppe. "Viele Nichtregierungsorganisationen, die in China Behinderten helfen, können in diesem Sommer wegen der Olympischen und Paralympischen Spiele nicht arbeiten", sagt eine Informantin.

Donnerstag, 21 Uhr

Der Korrespondent gibt auf und fliegt zurück nach Peking. Ein Chinese mit einem Mobiltelefon wartet, bis er Platz genommen hat. "Er ist drin", sagt er. Dann steigt er aus, kurz bevor die Maschine abfliegt. Er hat seine Mission erfüllt. Die Recherche ist gescheitert.

© SZ vom 15.09.2008/ssc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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