Süddeutsche Zeitung

Premierenkritik:Familienschlacht

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Tina Lanik inszeniert am Münchner Residenztheater Tracy Letts' Bühnendrama werktreu. Das klappt ausgezeichnet.

Von Egbert Tholl

Natürlich kommt einem vieles bekannt vor, in dieser Ansammlung von brillanten Säufern, zynischen Versagern, harten Eltern, hilflosen, verletzten Kindern. Doch so sehr man angesichts von Tracy Letts' bösem Generationentableau "Eine Familie" auch an Stücke und Stoffe wie "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" oder "Das Fest" denkt: Sein Stück ist geadelt durch die Kraft der eigenen Erfahrung. Fast jedes der ungeheuerlichen Motive, die Letts hier kunstvoll zu einem prallen Familienschlachtfest zusammenbaut, ist ihm in der eigenen Familiengeschichte selbst begegnet. Daraus entsteht eine Wahrheit, die in wenigen einzelnen oder auch ganz vielen Aspekten für jeden Zuschauer gelten kann. Selbst wenn man sich hier in Oklahoma befindet, in der Prärie, die hier auch ein Gefühl ist. Wer Prärie hat, hat den Blues.

Tina Lanik vertraut nun am Münchner Residenztheater dem Text; etwas anderes bleibt ihr kaum übrig: "Eine Familie" ist ein well made play, ausgerüstet mit einer Mechanik der Rhetorik, über deren Wirkung Letts in seinen Szenenanweisungen wenig Zweifel lässt. Entweder man macht dieses Stück mehr oder weniger so, wie es dasteht. Oder man lässt es bleiben.

Zunächst baut Lanik mit Hilfe des erlesenen Bühnenbilds von Jens Kilian und der Kraft der eigenen Textexegese sorgfältig nach, was Letts vorschreibt. Das klappt auch ausgezeichnet, weil sich die Schauspieler mit Hingabe der Figuren annehmen. Man kann sich alle möglichen Abgründe vorstellen - hier sind sie. In Gestalt der kranken, einsamen Mutter (Charlotte Schwab) und ihrer bösen Schwester (Barbara Melzl), der drei in verschiedenen Graden verzweifelten Töchter, der zwischen Desillusion und Nutzlosigkeit changierenden Männer. Grandios Sophie von Kessel als älteste der Schwestern, die alle Lebensträume um sich herum zerbrechen sieht. Vor allem für sie hält Lanik die Mechanik immer wieder an, schafft kleine Albträume, notwendige kleine Löcher in Letts' starren Bauplan - und das Theater kriegt Luft.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2015
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