Premiere am Schauspielhaus Bochum:Ein Quantum Leben

Premiere am Schauspielhaus Bochum: In Elias Canettis Prädestinationssystem ist die Lebenszeit eines jeden exakt befristet. Szene mit Stefan Hunstein (vorne) und Dominik Dos-Reis.

In Elias Canettis Prädestinationssystem ist die Lebenszeit eines jeden exakt befristet. Szene mit Stefan Hunstein (vorne) und Dominik Dos-Reis.

(Foto: Birgit Hupfeld)

Berührendes Theater auf Abstand: Johan Simons inszeniert mit viel Gespür für die Zeit "Die Befristeten" von Elias Canetti. In dem Stück weiß jede Figur ihr Todesdatum.

Von Alexander Menden

Irgendwann nimmt der Schauspieler Stefan Hunstein im hinteren Bühnendrittel auf dem mittleren von drei Stühlen Platz, die mit gelblichem Samt bezogen sind. Er trägt eine Atemschutzmaske. Er fragt: "Kannst du mir erklären, wieso ich noch am Leben bin?" Es ist ein Moment der Spiegelung an einem bemerkenswerten Abend im Schauspielhaus Bochum. Hunstein sitzt auf Gestühl, das aus dem Zuschauerraum entfernt wurde. Dort klaffen nun große Lücken - auch zwischen den nur 50 Zuschauern, die unter Einhaltung der Corona-Distanzregeln strategisch in dem gähnenden Raum verteilt sind. Sie tragen ebenfalls Masken. Die Frage, warum er oder sie noch am Leben ist, mag sich während der Pandemie auch der eine oder die andere von ihnen ernsthaft gestellt haben.

Johan Simons' Inszenierung von Elias Canettis Drama "Die Befristeten" über eine Welt, in der alle genau zu wissen glauben, welche Lebensspanne ihnen zugewiesen wurde, ist der erste dramatische Gehversuch in Bochum nach der Corona-Zwangspause. Nach einem Parcours von Distanzschlangen vor dem Eingang, Kontaktdetail-Hinterlegung und geführtem Weg zum Platz wieder in einem Theater zu sitzen, empfindet man für sich genommen schon als Fortschritt. Dass es ein zwangsläufig exklusives Vergnügen ist - mehr als 50 Personen dürfen aus Hygienegründen nicht dabei sein -, trägt zusätzlich zum Eindruck des Pionierhaften bei.

Zu sehen, wie eine Kunstform, die sich eigentlich aller ästhetischen Vorschriften entledigt hatte, nun mit neuen, oktroyierten und gänzlich theaterfremden Vorschriften umgeht, ist höchst spannend. Dabei erlebt man in Bochum weniger ein Arrangement mit missliebigen Notwendigkeiten, als deren versierte und elegante Integration in einen dichten und stimmigen Theaterabend. Das beginnt damit, dass Simons zu Beginn der Vorstellung fast die gesamte Bühnentechnik in Gang setzen lässt: Traversen fahren auf und ab, der Bühnenboden hebt und senkt sich, Scheinwerferlicht durchstößt von einem Ventilator aufgewühlte Nebelschwaden. Der Bühnenraum wird zu einer kinetischen Installation - technische Choreografie, Leistungsschau und hypnotischer Gestus der Selbstbehauptung des Theaters.

Der Name einer Figur bedeutet ihre Lebensspanne: "32", "93", vielleicht auch nur "12"

Die neun Darsteller treten durch die stets geöffneten Saaltüren ein: eine sektenartige Gesellschaft, chorisch gleichgeschaltet, fast alle in Rot gekleidet, alle genau wissend, wie lange sie zu leben haben. Der Name ist zugleich die Lebensspanne: "32", "93", vielleicht aber auch nur "12". Eine vermeintlich sichere Existenz, aus der die Todesangst verschwunden ist. Wenn sie immer umsichtig Abstand voneinander halten, ihn sogar bisweilen mithilfe rot-weißer Stangen messen und durchsetzen, erscheint in dieser bizarr normierten Welt nur folgerichtig. Über all dem wacht die Ordnungsgewalt einer Wächterfigur, des "Kapselans", mit teilnahmsloser Autorität gespielt von Jing Xiang. Er allein hat Einblick in den Inhalt der Kapseln, die jedem Menschen von Geburt an um den Hals hängen. Sie enthalten das Geburts- und Todesdatum.

"Die Befristeten", die Canetti 1952 als Reaktion auf den Tod seiner Geliebten Friedl Benedikt verfasste, ist ein Gedankenexperiment. Es ereignet sich im Spannungsfeld zwischen der von Canetti selbst als "fatalistisch" kategorisierten Vorstellung, der Mensch werde "mit einem bestimmten Quantum Leben" geboren und dem "erstaunlichen Maß an Freiheit", das es bedeuten würde, wenn man selbst Einfluss auf die eigene Lebensspanne hätte.

Ein Stück, wie gemacht für die Post-Lockdown-Welt

Ein Stück, wie gemacht für die Post-Lockdown-Welt: Es ist kurz genug, um Zuschauer und Ensemble nicht zu lange den Aerosolen der anderen auszusetzen. Vor allem aber stellt es in der leicht umgebauten Version von Angela Obst einleuchtende Bezüge zu unserer seltsamen Gegenwart her. Es ist nicht allein das instinktive Voneinander-Abrücken der Menschen, sondern auch das Repetitive der Existenz, das wie die Essenz der Lockdown-Realität erscheint. Auch ein in Beckett-Manier sich wiederholender Dialog weckt Erinnerungen an die bleierne Zeit der Ausgangsbeschränkungen: "Was tun wir heute?" "Dasselbe denk ich, dasselbe wie immer." "Und das wäre?" "Nichts" "Ja. Nichts. Es ist immer nichts."

Stefan Hunstein spielt als "50" die Rolle des Zweiflers, der das ganze Kapsel- und Prädestinationssystem infrage stellt. Er ist, wenn man so will, ein Verschwörungstheoretiker, der Hygienedemonstrant der vorbestimmten Kapselwelt, nur mit verkehrten Vorzeichen. Denn er tritt dabei nie fordernd oder aggressiv auf, eher fragend und ohne jeden Triumphalismus. Er ist "einer, der nie an seinen Augenblick geglaubt hat". Als sein "Augenblick" des vorbestimmten Todes vergangen ist, und er noch immer lebt fragt er: Wieso?

In dieser Distanzregelwelt wird jede physische Nähe zum Ereignis. Wenn sich gegen Ende Risto Kübar seiner Kollegin Gina Haller nähert - er darf dass, weil sie im wirklichen Leben zusammenwohnen -, ist das ein überraschend packender Moment. Dass seine Figur es tut, um ihre umzubringen, und zwar unter anderem, indem er sich auf ihren Hals kniet, erscheint als derart müheloses, ja fast notwendig aus dem Vorhergegangenen sich ergebendes Realitätszitat, dass einem selbst kurz der Atem stockt.

Mag sein, dass das kontaktlose Corona-Korsett, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, irgendwann eintönig wird, dass man sich nach der völligen Freiheit vor dem Lockdown zurücksehnen wird. Vorläufig ist es, wenn es so ideenreich, souverän und versiert in die Produktion einfließt wie hier, ebenso hochwillkommen wie die Rückkehr des leibhaftigen Theaters selbst. Der Schlussapplaus klingt weit lauter, als man es bei nur 50 Händepaaren erwarten dürfte.

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