Präsidentschaftswahl in der Ukraine:Warten auf ein  Wunder

Warum die Ukrainer politische Fragen so persönlich nehmen und welche Rolle bei der Abstimmung neue Technologien, Sowjetnostalgie und Paddington Bär spielen.

Von Sofia Andruchowytsch

Die Schlange beginnt in der Ecke der Eingangshalle, windet sich um die Säulen, steigt die Treppe auf und läuft bis zum Ende des Korridors. Im Erdgeschoss dieser Kiewer Bezirksverwaltung wimmelt es von Menschen. Wir stehen bereits seit zwei Sunden hier und haben erst die Hälfte geschafft. Plötzlich drängelt sich ein Mann durch. Er zittert vor Aufregung, auf seiner Stirn perlen Schweißtropfen. "Wollen sich alle diese Menschen registrieren lassen, um an einem anderen Ort zu wählen ?", fragt er und kann es nicht glauben. Er ist gekommen, um herauszufinden, wie er im Ausland, wo er lebt, seine Stimme abgeben kann: "Das gab es noch nie, dass man sich in Kiew so für die Wahl interessiert hat!", ruft er. Eine Freundin von mir lebt in Polen und wird am Wahltag 600 Kilometer zurücklegen, um ihre Stimme abzugeben. Die Ukrainer nehmen in der Tat große Mühen auf sich.

Die erste Runde der Präsidentschaftswahl gilt als die demokratischste und transparenteste Willensbekundung in der modernen Geschichte des Landes. Seit dem Maidan sind die Ukrainer überzeugt davon, dass sie Einfluss auf die Entwicklung ihres Landes nehmen können. Nun ist die Frage, ob sie die Ereignisse realistisch bewerten und die richtigen Schlüsse ziehen - und ob sie diese Wahl als die ihre begreifen und nicht als Folge von Manipulationen.

Diese Frage ist eine hochemotionale Angelegenheit, so wie die Politik insgesamt. Für einen modernen Ukrainer sind politische Überlegungen nicht weniger wichtig als die intimsten persönlichen Angelegenheiten, Gesundheit und Beziehungen zu nahestehenden Menschen. An politischen Fragen zerbrechen Beziehungen, Menschen werden depressiv oder durchleben Achterbahnfahrten der Gefühle. Zur Erklärung wird oft darauf hingewiesen, dass die Ukraine sich seit fünf Jahren im Krieg mit Russland befindet. 13 000 Ukrainer sind ums Leben gekommen, über 1,5 Millionen haben ihr Zuhause verloren.

Vieles hat sich verändert, aber die Befreiung aus der Einflusssphäre Russlands erweist sich als schmerzhaft. Das alte System stammt noch aus Sowjetzeit und wurde durch oligarchische Schichten ergänzt. Dies zu verändern, ohne Chaos zu verursachen, scheint manchmal fast unmöglich. Vor allem in Kiew, aber auch in anderen Städten sind die Straßen voller teurer Autos, die Menschen sind gut angezogen, sie lächeln freundlich, verbringen die Zeit in den Kaffeehäusern und Restaurants und reisen durch die Welt. Aber die Unzufriedenheit war selten so groß.

Sie hat paradoxerweise in einer Zeit besonders zugenommen, als echte Veränderungen stattfanden. Zu den wichtigsten Resultaten der Amtszeit von Präsident Petro Poroschenko gehören die Visumfreiheit für die EU, der Neuaufbau der aufgelösten ukrainischen Armee, die Gründung der einheitlichen ukrainischen Kirche, die Reformierung der Justiz, Reformen im Gesundheits- und im Bildungswesen. Aber die Informationspolitik ist eine Katastrophe. Die Präsidialverwaltung entscheidet im kleinen Kreis hinter verschlossenen Türen. Die Kritik an Poroschenko in den sozialen Medien ist aggressiv, manchmal berechtigt, aber oft verlogen und absurd.

Ukrainian Fashion Week Spring/Summer 2015

Postsowjetische Suche nach Orientierung: Models bei einer Modenschau in Kiew.

(Foto: Roman Pilipey/dpa)

Die typischen Probleme eines postsowjetischen Landes - soziale Schutzlosigkeit, ungerechte Gerichtsverfahren - werden im Bewusstsein vieler Ukrainer unter dem Einfluss von Medien, Trollen und anderen Arten politischer Technologien mit der puren Existenz Poroschenkos in Verbindung gebracht. Viele Ukrainer haben eine naive Vorstellung von politischen Prozessen. Dass ein möglicher Sieg des Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selensky als Ergebnis eines "Votums mit Herz" interpretiert wird, ist kein Wunder.

Viele Poroschenko-Gegner halten beispielsweise an dem Mythos fest, der Krieg im Donbass dauere nur deswegen an, weil der Präsident ihn nicht beenden will, sondern sich daran persönlich bereichert. Damit die Gefechte aufhörten, hätte er nur den russischen Präsidenten Wladimir Putin anrufen müssen.

Also erwarten die Anhänger von Selensky, dass einer seiner ersten Schritte als Präsident ein Gespräch mit Putin sein wird und das Resultat eine sofortige Waffenruhe. In einer Fernsehansprache hatte Selensky versprochen, vor Putin um des Friedens willen niederzuknien.

Viele Wähler sind überzeugt, dass es um Großes geht - um Rettung, Erlösung, Wiederauferstehen, totalen Wandel und Wunder. Die Anhänger beider Kandidaten sehen im Sieg des anderen einen totalen Zusammenbruch des Landes.

Unter den Befürwortern Poroschenkos liegt allerdings der Anteil von Menschen höher, die zwar entschlossen sind, ihm ihre Stimme zu geben, aber sich seiner Fehler bewusst sind. Die meisten Anhänger von Selensky dagegen idealisieren ihren Kandidaten. Für sie ist er ein neues Gesicht in der Politik. Dabei ist an der Figur von Wolodymyr Selensky nichts Neuartiges. Seine Schauspielerkarriere startete vor dem Hintergrund eines weit verbreiteten Phänomens sowjetischer Unterhaltungskultur auf: des KWN.

KWN ist ein russisches Akronym für "Klub der Fröhlichen und Schlagfertigen". Diese witzigen, kabarettartigen Improvisationen kamen in den Sechzigerjahren ins sowjetische Fernsehen als Wettbewerb von studentischen Gruppen und Fakultäten. Sehr bald wurden die Live-Übertragungen durch Aufzeichnungen ersetzt, da die Sowjetmacht keinen unkontrollierten Humor zulassen wollte. Die Zusammenarbeit mit dem Zensor führten zum typischen KWN-Humor einschließlich sorgfältig inszenierter Improvisationen. Er war zugänglich und schlicht, man musste weder gebildet noch belesen sein; für die Sowjetmacht war er ungefährlich. Anspruchslose Kalauer mit diskriminierenden Untertönen wurden besonders begrüßt.

Die Show verbreitete sich in alle Ecken der Sowjetunion. Von Anfang an assoziierte man sie mit Freude und Erholung, sie gab jedem Zuschauer die Chance, sich witzig und klug zu fühlen. Bis heute beobachtet man bei einem großen Teil der Menschen in postsowjetischen Ländern einen KWN-Reflex. Das Spiel ist fester Bestandteil der Sowjet-Nostalgie.

Als KWN-Zögling ist Selensky bis heute Teil dieser Show. Alle Projekte von ihm zeichnen sich durch dieselbe Art von Humor aus. Eines der letzten Projekte des Präsidentschaftskandidaten Selensky war die TV-Serie "Diener des Volkes", die zum ersten Mal 2015 ausgestrahlt wurde und in der Selensky einen Geschichtslehrer spielt, der durch Zufall Präsident der Ukraine wird, mal auf das Parlament schießen lässt, mal behinderte Menschen beleidigt. Er ist aber ein durchweg fröhlicher und angenehmer Mensch "aus dem Volk", er ist "wie alle": Zur Arbeit fährt der frisch gebackene Präsident mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Präsidentschaftswahl in der Ukraine: Sofia Andruchowytsch, geboren 1982 in Iwano-Frankiwsk in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik, ist Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von ihr "Der Papierjunge" (Residenz-Verlag).

Sofia Andruchowytsch, geboren 1982 in Iwano-Frankiwsk in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik, ist Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von ihr "Der Papierjunge" (Residenz-Verlag).

(Foto: Alex Chekmenev)

Im realen Leben ist Wasyl Holoborodko übrigens ein ukrainischer Lyriker und Dissident, der 2014 nach dem Beginn der Kriegshandlungen Luhansk verlassen musste. Aber davon wissen die Fans des TV-Holoborodko nichts.

Noch ein Mythos, an den seine Anhänger glauben: Angeblich vereint Selensky die Ukraine. Schaut man jedoch auf die Statistiken, wer für diesen Kandidaten votiert hat, beobachtet man eine klare Polarisierung der Interessen: 56 Prozent seiner Anhänger sind für den Nato-Beitritt, 35 Prozent treten für einen blockfreien Status auf; 55 Prozent wollen eine größere Distanz zu Russland, 32 Prozent sind für die Wiederaufnahme der alten Beziehungen mit dem Nachbarland; 52 Prozent streben die Unterstützung des Ukrainischen an, 41 Prozent bevorzugen gleiche Bedingungen für alle Sprachen; 47 Prozent wollen eine Marktwirtschaft, 41 Prozent sprechen sich dagegen für staatliche Kontrolle aus.

Dass so verschiedene Menschen Zuflucht in der Figur von Selensky nehmen, bedeutet leider nicht, dass er einen gemeinsamen ukrainischen Nenner gefunden hat. Er hat dem ukrainischen Wähler ein buntes Bastel-Set angeboten, ein Malheft, das jeder nach seinem Geschmack selbst ausmalen kann - konkrete Aussagen von ihm finden sich kaum.

Stattdessen windet sich der Schauspieler, stellt sich in Positur und ahmt in seinen verqueren Appellen an Poroschenko verschiedene Stimmen nach, einmal sogar die Stimme von Paddington Bär. Die Rolle hat er für die ukrainische Fassung des Films synchronisiert.

Aber viele Ukrainer vertrauen ihm, weil er nicht über schwierige Statistiken oder Gesetze spricht, sondern Witze macht: Er vergleicht den Staat mit einer deutschen Pornodarstellerin oder schafft es, in einem Witz ukrainischsprachige Ukrainer, Homosexuelle und Behinderte zu verletzen. Wir sehen einen Werbespot, in dem Selenskys Mutter, eine bescheidene Frau, erzählt, wie sie versucht hat, ihren Sohn dazu zu bewegen, sich die Kandidatur aus dem Kopf zu schlagen. Wir sehen seine Lehrerinnen, die sich an den kleinen Wolodja erinnern, wie er an der Theatergruppe teilgenommen hat. Und da ist die Nachbarin, die sanft lächelt bei der Erinnerung daran, wie ihr der Vater von Wolodymyr Selensky mit einer Portion Eis im Sommer aufwartete.

Nach fünf Jahren Unsicherheit lehnen sich viele Menschen gerne an etwas so Kuscheliges und Harmloses, Niedliches und Sicheres an, das wie Paddington Bär aussieht und auch so klingt. Dabei kann man leicht übersehen, dass der Bär bislang hartnäckig schweigt.

Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot.

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