Süddeutsche Zeitung

Porträt:Schönheit für alle

Lesezeit: 4 min

Die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao baut auf Empathie - und sorgt weltweit mit ihrer menschlichen Baukunst für Aufsehen.

Von Frank Steinhofer

Eine Staubwolke bildet sich. Die Luft schmeckt sauer, nach Zement. Menschen flüchten auf die Straße. Sie weinen und halten sich in den Armen. Ein Haus ist eingestürzt. Am 19. September 2017 verwüstet ein schweres Erdbeben Mexiko-Stadt. 39 weitere Häuser fallen in sich zusammen. Tausende sind stark beschädigt. In den kommenden Wochen geben Gebäude keinen Halt mehr. Der Glaube an ihre Sicherheit schwindet. Es sind Menschen, die Standhaftigkeit beweisen. Unter der Leitung von Tatiana Bilbao formiert sich eine Gruppe von Architekten. Es geht um Hilfe für Personen, die ihr Zuhause verloren haben - aber auch um raschen Wiederaufbau und die Reform des Bauwesens. Existenzsorgen prägen den Alltag einer Architektin in Mexiko.

Zwei Jahre später herrscht munteres Treiben auf der Paseo de la Reforma, der Hauptverkehrsader des 20-Millionen-Ballungsraums. Auf der einen Seite wachsen Banken und Luxushotels in den Himmel. Doch in ihrem Schatten ducken sich Häuser mit Schneidereien, Restaurants und Galerien. Mittendrin befindet sich das Büro von Tatiana Bilbao. Lichtdurchflutete Räume und viel Grün. Auf der Terrasse liegen Bruchstücke eines Swimmingpools. An den Wänden hängen Collagen. Aufnahmen von Gebäuden sind kaum zu sehen.

Die Collage als Ideenlandschaft

"Eine Collage hat für mich ein offenes Ende", sagt Tatiana Bilbao. "Jeder kann sie mit eigenen Eindrücken vervollständigen." So erschafft sie mit ihren Auftraggebern die Atmosphäre kommender Orte. Auf 3D-Renderings verzichtet die 47-Jährige. Denn sie lähmen die Vorstellungskraft. Kein Projekt verkörpert ihr Credo so wie der Botanische Garten in Culiacán. Bilbao vergleicht es mit einem Fortsetzungsroman, an den sie immer wieder anknüpft. Seit 2004 entwickelt sie Pavillons entlang einer Wegführung, die sich wie der mexikanische Huanacaxtle-Baum verästelt. Es sind subtile Eingriffe, mit großer Wirkung. Kürzlich besuchte sie den Garten mit Freunden für eine Kunstperformance. Eine Frau nahm sie beiseite und sagte: "Ihr seid nicht von hier, oder?" Und erzählte stolz, wie sehr der Garten das Leben in der Stadt bereichere. Eine Gelegenheit für Bilbao, sich als Architektin vorzustellen? "Wieso, denn?" Sie lächelt. "Es ist doch jetzt ihr Garten."

Auf Konstrukteure hören

Im Gespräch wird klar: Die mexikanische Architektin drängt sich nicht gerne in den Vordergrund. Vielmehr versucht sie, auf die Bedürfnisse von Beteiligten einzugehen. Für den Künstler Gabriel Orozco hat sie ein Haus im Küstenort Puerto Escondido errichtet. Es lugt wie eine Sternwarte zwischen steilen Felsen hervor. Ein kreisrunder Pool auf dem Dach dient als kontemplative Mitte. Die Formensprache entstand im Dialog mit mexikanischen Arbeitern. "Der einzige Job, den Leute in einigen Regionen bekommen können, ist in der Baubranche", erzählt Bilbao. "Manchen fällt es schwer, Pläne zu lesen." Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, entwarf sie eine klare Geometrie und verwendete herkömmliche Materialien der Region.

Das Kleinsthaus

Als Tatiana Bilbao von der mexikanischen Regierung beauftragt wurde, ein Kleinsthaus für arme ländliche Gemeinden zu entwerfen, arbeitete ihr Team Monate an einer Lösung, ehe sie feststellte: Wir planen an den Notwendigkeiten der Bewohner vorbei. "Warum fragen wir sie nicht, was sie wollen?", warf Bilbao in die Runde. Ihr Team führte Gespräche mit Hunderten Menschen über deren räumliche Vorstellungen vom Leben. Eines sollte nicht zu kurz kommen. "Wir alle brauchen Schönheit, um uns zu entwickeln", sagt Tatiana Bilbao. Wenn es den Bewohnern schon im Alltag und der Arbeit daran mangele, dann solle zumindest ihr Haus dem Bedürfnis gerecht werden. Trotzdem entwickelte sie einen Prototyp für weniger als 6000 Euro. Seit 2015 ein Tornado die Stadt Ciudad Acuña verwüstete, kommen Varianten ihres Hauses landesweit zum Einsatz.

Entwerfen bedeutet nicht unterwerfen

Auch gegen den Willen der Natur zu bauen, kommt für die in Mexiko-Stadt geborene Architektin nicht infrage. Entwerfen bedeutet nicht unterwerfen, wie ihr jüngstes Projekt veranschaulicht: die Neugestaltung des Acuario Mazatlán. Für Bilbao ist ein Aquarium der Inbegriff der totalen Entfremdung von der Natur. "Kommt schon, Leute", fragte sie die Bauherren, "ihr wollt wirklich Pinguine nach Mexiko holen?" Sie entwarf stattdessen eine Art Ruine, die sich die Natur zurückerobern kann. Der Artenreichtum des nahen Meeres strömt buchstäblich in das Gebäude hinein und flutet es.

Die Architektur der Anderen

Am Ende ist es Empathie, die Bilbaos Arbeiten auszeichnet. Es geht ihr darum, eine Plattform zu schaffen, auf der die Menschen selbst die gewünschte Lebensqualität anstreben können. Aber wie erklärt sie sich ihren internationalen Erfolg? Dazu gehört ein Pavillon im Jinhua-Architektur-Park in China, sozialer Wohnungsbau in Lyon oder bald ein Kloster in Deutschland. Eine Ausstellung ihrer Arbeiten ist derzeit in Kopenhagen zu sehen.

"Man ist immer ein Fremder. Selbst im eigenen Land", sagt sie. Sie versuche, die Illusion der allwissenden Architektin aufzugeben und aus jeder Begegnung zu lernen. Einfühlungsvermögen mache schließlich nicht vor Ländergrenzen halt. Sie erwähnt den Hang zur Zusammenarbeit mit Philosophen - aber auch mit Arbeitern. Schließlich spricht sie über ihre Rolle als Frau. In ihrem Elternhaus sei Ungleichheit kein Thema gewesen. Erst später habe sie gemerkt, dass sie von der Ungerechtigkeit im System profitiere. Wenn in Mexiko eine Architekturausstellung stattfand, fehlten immer die Arbeiten einer Frau. Ein wichtiger Wettbewerb wurde ausgeschrieben - wieder nur unter Männern. So wurde sie zur Lückenbüßerin. Heute versuche sie, offen darüber zu sprechen. Darüber hinaus bringe sie Frauen in ländlichen Gegenden bei, Häuser zu bauen. So könnten sie der Gewalt in den eigenen vier Wänden entfliehen. "Für die, die kommen, sollte alles offenstehen", sagt Tatiana Bilbao. Mexiko scheint eine gute Schule der Sensibilität zu sein. Während von dem großen Nachbarn USA dieser Tage eine politische Message durch die Welt geht, erklingt eine andere Botschaft aus dem Büro von Tatiana Bilbao: People first.

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Quelle:
SZ vom 14.12.2019
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