Süddeutsche Zeitung

Porträt des Künstlers Tómas Saraceno:Arachnophilia

Lesezeit: 4 min

"Die Spinnen leben mit uns, wenn man sie leben lässt": Warum sich der Künstler Tomás Saraceno gerne im Netz der Insekten verheddert.

Von Kito Nedo

Wie ist das, wenn Spinnen sich verlieben? Bekannt ist zumindest, in welchem Frequenzbereich etwa das Männchen der Radnetzspinne Argiope Keyserlingi (ehrenhalber benannt nach dem Arachnologen Eugen von Keyserling) um potenzielle Partnerinnen wirbt: zwischen 58 und 178 Hertz. Die richtigen Vibrationen im Netz entscheiden laut einer australischen Studie nicht nur über Paarungsoptionen der Achtbeiner, sondern auch über Tod oder Leben. Schließlich darf das Spinnenweibchen das Männchen in ihrem Netz nicht mit herkömmlicher Beute verwechseln und verspeisen. Soll aber auch oft vorkommen. Die meisten Spinnen verfügen nur über einen schwachen Sehsinn.

Gemessen an der räuberischen Spinnenrealität ist die spektakuläre Netzinstallation mit dem Titel "Algo-r(h)i(y)thms", die der Künstler Tomás Saraceno derzeit in der Galerie Esther Schipper in Berlin-Schöneberg aufgebaut hat (noch bis zum Wochenende dort zu sehen), eine friedliche Angelegenheit. Wie die Netze von Riesenspinnen spannen sich schwarze Schnüre in verschiedenartigen Verknotungen durch den weißen Raum. Sie kleben jedoch nicht. Keine Falle! Berührt man aber eine der Schnüre, die über Tonabnehmer mit einem Computer verbundenen sind, erklingt ein echoartiger Ton. Jede Schnur erzeugt einen anderen Sound. So entsteht ein in sich versponnener Ambientraum, der sich aus den Tönen immer neu und anders zusammensetzt. Es handelt sich um achtzehn verschiedene Soundskulpturen, die in verschiedenen Frequenzen schwingen, eine davon handelt vom typischen "Paarungsschauder" der Argiope Keyserlingi. Während des Aufbaus haben Saraceno und sein Team fast dreieinhalb Kilometer Schnur durch den Ausstellungsraum gezogen.

Für den 1973 in Argentinien geborenen Künstler ist der Raum wie ein großes Instrument. Die ganze Welt der Spinnen, davon ist Saraceno überzeugt, besteht aus Vibrationen, die über ihre Netze laufen. Die Gespinste begreift er als erweiterte Körperteile. Als Saraceno im vergangenen Jahr eine Ausstellung für den Palais de Tokyo in Paris konzipierte, organisierte er eine Begehung des Gebäudes mit der französischen Arachnologin Christine Rollard, die am Pariser Naturkundemuseum arbeitet. Gemeinsam suchten beide nach Spinnen, die bereits in der Institution lebten und legten eine Karte an, in der sie die Spinnenpopulation akribisch genau verzeichneten.

Am Ende waren 500 verschiedene Spinnennetze protokolliert. Saraceno verhandelte mit der Verwaltung des Pariser Museums und bekam die Zusage, dass vor und während der Ausstellung die Spinnennetze vom Reinigungspersonal verschont blieben, um den Spinnen "mehr Raum" zuzugestehen. Er wünschte sich, dass sie vom Keller her kommend sich auch die oberen Stockwerke zurückerobern würden. "Die Spinnen leben mit uns, wenn man sie leben lässt", sagt der Künstler. Die Gliederfüßer bevölkern schließlich schon seit mehreren Hundert Millionen Jahren die Erde.

Die webbasierten Tierchen dürfen sich auch gerne mal ein ganzes Museum zurückerobern

Auf seiner Webseite mit dem Titel "Arachnophilia" findet man unter anderem Bauanleitungen für das Abhören von Spinnennetzen: Dem Künstler geht es um das Begreifen von Verbindungen und Netzwerken durch den Sound. Selbst eine Smartphone-App hat er bereits entwickeln lassen, eine Art digitales Orakel, geboren aus der Mischung aus Konnektivität, Esoterik und Naturwissenschaften. Mit der App gebe es, so erklärt der Künstler, endlich die Möglichkeit "sich von einem nicht-menschlichen Wesen eine SMS schicken zu lassen" oder auch mal "eine Frage an eine Spinne" senden zu können.

"Spinnen erinnern uns daran, dass wir Menschen nicht die Krone der Schöpfung sind" sagt Saraceno. Im diskursorientierten Teil der internationalen Kunstwelt ist solch speziesübergreifendes Denken schon längst durchgesetzt. Wie könnte man etwa je vergessen, mit welcher Ernsthaftigkeit die von der Philosophin Donna Haraway inspirierte Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev einst das Wahlrecht für Bienen und Erdbeeren forderte und auf der Weltausstellung in Kassel einen Skulpturenpark installieren ließ, welchen nur Hunde erkunden durften?

Gerade hat das Berliner Kunstmagazin Monopol Saraceno auf Platz sieben seiner Top 100 gesetzt. Im Frühjahr wird Saraceno unter anderem im Palazzo Strozzi in Florenz, dem intermedialen New Yorker Ausstellungszentrum The Shed, im Hessischen Landesmuseum Darmstadt und dem Moskauer Museum für Gegenwartskunst Garage ausstellen. In der Gegenwart des großen Insektensterbens scheint auch die Zeit gekommen, an den wichtigen Beitrag der Spinnen zum Ökosystem zu erinnern, auch und gerade mit den Mitteln der Kunst.

Seit 2001 lebt Saraceno in Deutschland. Sein Geburtsland Argentinien verließ er während der großen Wirtschaftskrise, die dort Ende der Neunziger wütete und um 2001/2002 zum Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems führte. In Buenos Aires hatte er Architektur studiert. In Frankfurt schrieb er sich 2001 an der Städelschule ein und studierte bis 2003 in der Klasse des Rasterkünstlers Thomas Bayrle. Neben den Spinnen beschäftigt er sich auch mit Modellen, die das emissionsfreie Fliegen ermöglichen sollen. In seinen Kunstforschungen ist er eigenständig - obwohl er in seiner konzeptuellen Praxis wohl auch einiges seinem etwas älteren Künstlerkollegen Olafur Eliasson verdanken dürfte, der das Feld ebnete für eine natur-laborhafte Ästhetik, mit der heute Künstler (und ehemalige Eliasson-Schüler) wie Julian Charrière oder Julius von Bismarck erfolgreich sind.

Heute arbeitet Saraceno in einer ehemaligen Agfa-Filmfabrik an der Rummelsburger Bucht am Rand von Berlin. Bevor er die beiden Gebäude erwarb, standen sie jahrelang leer. Vor fünf Jahren ließ er den Boden auf dem Gelände durch eine Fachfirma auf chemische Belastung prüfen. In den Häusern, hieß es in dem Befund, könne man arbeiten, aber Pflanzen sollten auf dem Grundstück nicht angebaut werden, denn sie würden giftige Früchte tragen. Im Inneren des Hauses gibt es mit geometrischen Modellen vollgestellte Räume, die an ein Architekturbüro erinnern. Anderswo sieht es aus wie im Wirtschaftstrakt eines zoologischen Gartens oder eines Labors. Tomás Saraceno züchtet und beforscht hier Spinnen, deren Netze er für seine Kunst verwendet. In einem weitgehend dunklen Raum sitzt eine Seidenspinne der Gattung Nephila Senegalensis regungslos in ihrem Netz, das sie in ein kastenförmiges Gehäuse gewebt hat. Saraceno holt eine kleine Stimmgabel herbei und hält sie an das Netz. Die Spinne beginnt, sich zu bewegen.

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Quelle:
SZ vom 19.12.2019
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