Porträt Chaya Czernowin:"Ich baue in die Luft"

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Früher hat sie die Oper gehasst. Inzwischen schreibt sie selbst Stücke dafür, sehr unkonventionelle. Ein Treffen mit der Avantgardekomponistin Chaya Czernowin, deren Oper "Heart Chamber" in Berlin Premiere hat.

Von Reinhard J. Brembeck

Eine kleine, schöne Frau, Anfang 60 und mit schwarzen Haaren, wieselt am späten Nachmittag ins Kantinenrestaurant der Deutschen Oper Berlin und holt sich einen Teller mit Linsen. Es sei, sagt Chaya Czernowin, ihre erste Mahlzeit an dem Tag. Chaya Czernowin ist eine weltweit bekannte Komponistin und aufgeregt ist sie, weil ihre vierte Oper auf die Bühne kommt, "Heart Chamber". Premiere ist an diesem Freitag. In Haifa geboren, hat sie als 25-Jährige Israel verlassen, derzeit wohnt sie in Boston, unterrichtet in Harvard. Ihren großen Durchbruch erlebte Czernowin im Jahr 2000 bei der Münchner Musiktheaterbiennale mit ihrem Operndebüt "Pnima . . . Ins Innere". Diese Oper erzählt von den nur langsam und lückenhaft sich einstellenden Holocaust-Erinnerungen eines alten Mannes, angestoßen durch die Fragen seines Enkels. Es geht um Schemen, um langsam sich lichtende Vergangenheitsnebel. Es gibt kein Libretto, und die Inszenierung von Claus Guth blieb konsequent im Ungefähren, in verhangenen Videosequenzen, die nur selten etwas klar erkennen ließen. "Pnima" ist das größte Erfolgsstück in der Geschichte der Biennale, es wurde häufig nachgespielt und begründete Czernowins Ruf als eine der führenden Avantgardekomponistinnen.

Chaya Czernowin sitzt unruhig in der Kantine. Gleich wird sie zum ersten Mal ihre neue Oper "Heart Chamber" (Herzkammer) am Stück hören können, 90 Minuten ohne Pause. Erst seit zwei Wochen sei sie sich überhaupt sicher, dass das Stück funktioniert. Bei den Proben hat sie bisher immer wieder etwas geändert, sie wird auch nach dem Durchlauf an einzelnen Stellen noch nachbessern, nichts Großes. Czernowin spricht Deutsch mit einem wild melodischen Singsang, der immer wieder in ein schallendes Lachen ausbricht. Ihre Augen wandern unruhig durch den Raum, sie sucht nach dem richtigen Ausdruck, nimmt aber nur gelegentlich Zuflucht zum Englischen.

Das Stück ist eine Seelenreise ins Innerste, hier: in die Herzkammer der Liebe

Für "Heart Chamber" hat sie den Text selber geschrieben, ungewöhnlicherweise bereits in der Form einer Partitur, verteilt auf die zwei Protagonisten, Mann und Frau, ihre beiden Doubles und einen sechzehnköpfigen Chor. Das Stück hat so gut wie keine Handlung, es ist wie schon "Pnima" eine Seelenreise ins Innerste, hier: in die Herzkammer der Liebe. "Es geht um den Moment, wo die Liebe offen ist wie unter einem Mikroskop. Den Moment, wo man sich einer anderen Person gegenüber öffnet; nicht (Czernowin wechselt bei diesem ,nicht' unvermittelt ins Laute, Dezidierte) für eine Nacht, sondern für zehn Jahre." Es sei der Augenblick, von dem man spüre, er könnte dein Leben verändern. "Das ist überhaupt nicht rational. Es ist sehr körperlich, der Körper muss dabei sein, und der Moment enthält alle Bereiche unserer Person: die Seele, das Hirn, die Gedanken."

In "Heart Chamber" konzentriert sich die Komponistin also auf die elementarste Erfahrung von Liebe, so elementar, dass es vom Text her banal wirkt. Aber dann kommt Czernowins Musik ins Spiel. Wer nichts von ihr kennt, dem empfiehlt sie ihr 45-minütiges Streichquartett "Hidden" (leicht im Internet zu finden). Czernowin schreibt große geräuschhafte Klangfelder, prasselnd, flackernd, naturhaft dunkel, oft an der Hörgrenze, aber immer voll jener packenden Energie, die auch im Gespräch von ihr ausgeht. Diese Musik und ihre Energie erfüllen die Liebesgeschichte mit Leben. "Die Musik ist das Universum, das ich kreiere. Sie bringt die innere Welt und die Gedanken der Figuren zum Leben, sie macht sie wahr. Die Musik macht, dass man diese Welt berühren kann. Sie ist da, ich kann sie erleben, als würde ich in diesen Menschen sitzen. Mir wird erlaubt, ein Teil von ihnen zu sein. Hoffentlich."

Als sie im Jahr 2000 "Pnima" herausbrachte, erklärte Czernowin in allen Interviews: "Ich hasse die Oper." Das war nur zu verständlich angesichts ihrer Herkunft aus der opernskeptischen Hardcore-Musikavantgarde. Sie sagt, sie habe das alles verabscheut, "den Belcanto, das Demonstrative, die Vereinfachung, das barock Zeremonielle". Bei der Arbeit an "Pnima" aber sei der Hass der Faszination gewichen. Ein Orchesterstück zu schreiben, bedeute für sie "eine Stadt, einen Wald" zu kreieren. Ein Kammermusikstück vergleicht sie mit einem Haus, einem Raum, einem Garten. "Aber eine Oper ist ein Universum," da komme alles zusammen: Raum, Haus, Garten, Stadt, Wald. Zudem entspricht es ihrem Naturell, nicht Zusammenpassendes zu verbinden, Risiken einzugehen, Übermenschengroßes zu machen.

"Heart Chamber" wird an diesem Freitag an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Es geht um die Elementarerfahrung der Liebe. (Foto: Martin Müller/imago)

So wusste Czernowin schon bei "Pnima", dass sie sich als Komponistin von Opern versteht. Im neuen Stück gibt es jetzt sogar zwei Passagen, die an Arien erinnern. Mit einem entscheidenden Unterschied zu herkömmlichen Arien: "Sie werden geflüstert." Auch das Liebesduett wird nicht gesungen, sondern geflüstert. Was ganz der spekulativen Ästhetik Czernowins entspricht, die sich in ihre Stoffe immer hörend hineinbohrt, die deren Essenz nicht laut nach Außen stülpt, sondern ihnen ruhig und mit elementarer Beharrlichkeit auf den Grund geht.

Die DNA ihres Stückes sei wie der Messias: "Der kommt nie."

Czernowin schwärmt für Robert Schumann und nennt Claude Debussy ihren "Helden", sie hat dessen "Pelléas" in Partien als Formmodell für "Heart Chamber" hergenommen. Zentral aber ist für sie das Spätwerk Ludwig van Beethovens: "In den Quartetten können so viele verschiedene Themen kommen. Aber man weiß: Die sind gar nicht das Thema. Er spricht von etwas anderem, das den Themen zugrunde liegt. Das kann man vielleicht erst zehn Minuten oder zehn Stunden später hören, nachdem das Quartett gespielt wurde. Dann kommt der Nachhall." Das ist das Metaphysische, das auch sie in ihren Stücken sucht: "Der Klang ist eine äußerliche Sache, ein Nebenresultat, ist Nachklang. Eine Nebenwirkung wie in der Medizin. Ich bin sehr spekulativ. Ich gehe nie den Weg, wo ich weiß, dass eins plus eins zwei ergibt. Nein. Ich baue in die Luft. Es ist nicht das Technische, was ich suche. Deshalb interessiere ich mich nicht so sehr fürs Handwerk. Es ist nur ein Mittel."

In "Heart Chamber" arbeitet sie erstmals mit einem Zentralklang - der aber nie erklingt. Sie nennt ihn die DNA des Stückes, aus der sie zwar alles abgeleitet habe, die aber nie erreicht wird: "Meine DNA existiert nicht. Sie ist wie der Messias: Der kommt nie." Das Ganze ist eine Umkehrung des bisher üblichen kompositorischen Denkens, das immer von einem real existierenden Thema ausgeht, das dann entwickelt wird. Bei Czernowin gibt es statt Entwicklung eine Folge von Emanationen. Es sind Erscheinungen von etwas, das nicht zu haben und somit das musikalische Pendant zum Phänomen Liebe ist. Zudem erlaubt ihr dieses Verfahren sehr viel mehr Möglichkeiten und Gestalten als in der herkömmlichen Praxis. "Ich versuche, das Feld so groß wie möglich zu halten. Und je größer es ist, umso ähnlicher ist es dem Leben. Weil ich glaube, dass im Leben alles passieren kann."

© SZ vom 15.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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