Porträt: Brigitte Schwaiger:Heillose Traurigkeit

Brigitte Schwaiger ist Bestsellerautorin - mit einer Borderline-Persönlichkeit. Das macht sie schwierig und unkalkulierbar. Im Gespräch offenbaren sich die Tiefen menschlichen Lebens und Leidens.

Birgit Lahann

Sie sitzt schon da, als wir in den Verlag kommen. Und sie sieht ganz anders aus als die Brigitte Schwaiger der Erinnerung, die so sinnlich durch den langen Pony sah.

Porträt: Brigitte Schwaiger: Borderline-Persönlichkeiten wie die Autorin Brigitte Schwaiger sind im Umgang schwierig.

Borderline-Persönlichkeiten wie die Autorin Brigitte Schwaiger sind im Umgang schwierig.

(Foto: Foto: Simon Mark)

Fast täglich waren vor diesem Termin Briefe gekommen. Wir sollen doch lieber nicht zu ihr nach Wien fliegen. Oder doch? Also gut. Also ja. Und im nächsten wieder: besser nein. Oder: reden ja. Aber kein Foto. Sie ist doch seit zwanzig Jahren nicht mehr fotografiert worden. Doch da sind wir schon gelandet.

Und nun sitzt die 57-Jährige wie in einer Rüstung da. Bonjour tristesse. Sie raucht eine "Arôme Vanille" nach der anderen, trinkt Kaffee und sagt mir, was ich schreiben soll: Nichts über sie. Wie bitte? Oder nur so am Rand. Sie möchte, dass ich eine Geschichte über den Verleger schreibe, der sich getraut hat, ihr Buch zu publizieren. Ich sage, das interessiert keinen Leser. Nicht? Ja, dann möchte sie aber eine Geschichte über ihren alten Freund, den Herrn Doktor, der ihr doch beim Ordnen des Buchs so sehr geholfen hat. Er sitzt neben ihr. Sie hat ihn als Schutzschild mitgenommen. Ich sage, auch das ist keine gute Idee. Auch nicht?

Das fängt ja gut an. Borderliner sind schwere Kaliber. Ihre Welt ist schwarz-weiß, ihre Stimmungen schlagen in Sekunden um, sie idealisieren und verteufeln, sind impulsiv und fordernd, neigen zum Suizid, verletzen sich die Haut, hören Stimmen, leben zwischen Chaos und Leere. Ich habe mir die Borderline-Persönlichkeit von einem Psychoanalytiker erklären lassen und weiß, dass ich auf alles gefasst sein muss.

Das ist das Loch!

Als geklärt ist, dass ich natürlich nur über sie schreiben werde, erzählt sie in ihrem weichen Wiener Singsang fünf Zigaretten lang von ihrem erwachsenen Sohn, der mit neun zu ihr kam und sagte: Mama, ich hab einen Ödipuskomplex.

Erzählt von dem östereichischen Kritiker Günter Nenning, der einmal geschrieben hat, dass die Schwaiger nach ihrem Bestseller "Wie kommt das Salz ins Meer" in ein 15-Jahre-leeres Loch fiel. Da hat sie ihm ein Paket mit all ihren anderen Romanen geschickt - "Der Himmel ist süß", "Die Galizierin", "Ich suchte das Leben und fand nur dich" - und dazu geschrieben: Das ist das Loch!

Erzählt, dass ihr Nazi-Vater sein Leben lang Angst gehabt hat vor dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal. Erzählt, dass sie 1977 einen ganz anderen Titel für ihr "Salz" haben wollte, nämlich "Situation in Prosa". Wie schrecklich, sage ich. Da lacht sie zum ersten Mal und sagt: "Mein Verleger hat auch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen." Und fragt: Wer kennt einen Witz?

Wir wollen auf die Baumgartner Höhe fahren, wollen im Park, wo sie so gern gesessen hat, Fotos machen. Dort in der Psychiatrie spielt ein großer Teil ihres Buches "Fallen lassen" (Czernin Verlag, Wien). Sie beschreibt darin Menschen, die einen Sprung aus dem Fenster überlebt haben, Menschen die von ihren Familien eingeliefert wurden, die eine Überdosis Tabletten wieder ausgespieen haben, die Borderliner sind wie sie. Sie alle sind im Pavillon 10, Ebene 2 versammelt.

Beschäftigungstherapie Handarbeit

Geschlechter-Trennung gibt es nur im Zimmer. Nicht im Bad, in der Wanne, in der Toilette. Zu wenig Platz, heißt es. Nachts, wenn Patienten umherirren, über die Flure schlurfen, Frauen im Nachthemd, Männer halb nackt, spuckend und mit wirrem Haar, ist kein Pfleger da. Zu wenig Personal. Am Tag werden die Kranken beschäftigt. Wir sitzen an Tischen, nähen, sticken, stricken, basteln, zeichnen, malen, kleben, schneiden, singen aber dabei kein Lied, schreibt sie.

Sie strickt. Strickt einen Schal nach dem anderen. Beim Stricken kann sie nachdenken, zuhören, träumen. Als sie den wievielten Schal anfängt, ruft die Pflegerin: Nein! Nicht schon wieder! Von da an näht sie Bettwäsche. Wochenlang.

Und hört, dass einer, der nach Hause durfte, aus dem Fenster gesprungen ist. Tot. Vielleicht vierzig. Schlank, mittelgroß, Brille, immer traurig. Sie wünscht ihm alles Gute, gratuliert ihm, beneidet ihn. Ist froh, dass sie ihm neulich beim Kartoffelschälen nicht gesagt hat, er soll seinen unappetitlichen Pullover mal hochziehen, damit der nicht so eklig im Essen hängt. Gut, gut, gut, sonst würde ich glauben, er ist deshalb hinuntergesprungen.

Wollen wir nicht langsam mal losfahren? Nein, das will sie nicht. Aber sie hat die Baumgartner Höhe doch vorgeschlagen. Ja. Aber die liegt hinter mir, sagt sie. Ich muss nach vorne sehen. Und wo ist vorne? Im Café Canetti. Elias Canetti sei einer ihrer Lieblingsautoren. Wie Simone de Beauvoir, wie Esther Vilar. Und so stark wie Elfriede Jelinek wollte sie sein. Die hat immer laut gesagt, was sie dachte. Hat ihr mal geschrieben: Brigitte, sauf nicht so viel! Nimm Psychopharmaka und schreib! Du kannst es.

Bis heute habe sie den Schock, über Nacht berühmt geworden zu sein, nicht verwunden. Ich war doch so jung und so verträumt, sagt sie, ich dachte, ich könnte nun mit anderen Autoren von Kollege zu Kollege reden. Aber ich war mit dem "Salz" einfach zu weit gesprungen. Wie Elfriede Jelinek mit dem Nobelpreis, sagt sie. Wir sind Ausgeschlossene. Sie und ich.

Schon Jahre vor ihrem großen Erfolg hat Brigitte Schwaiger sich Wunden zugefügt. Hat sich immer wieder ins linke Handgelenk geschnitten, hat sich später dann Zigaretten auf beiden Armen ausgedrückt, damit die Seele nicht so wehtut, schreibt sie, damit man das Seelenkleid zumindest vorübergehend einmal nicht spürt.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Brigitte Schwaiger das Schweigen in ihrem Kopf Mäusen zu verdanken hat.

Heillose Traurigkeit

Als sie zum ersten Mal Stimmen hört, ist sie 48. Sie schläft, sie wacht auf, und da redet jemand in ihr. Sie ist schockiert. Wer hat sich da in sie eingeschlichen? Wer spricht da in ihr? Die Stimme kontrolliert sie, überfällt sie im Halbschlaf, nistet sich im Kopf ein, im Hals, würgt ihre Stimmbänder, und am Tag, wenn sie auf der Straße geht, meldet sich der "Dämon".

Porträt: Brigitte Schwaiger: Als junges Mädchen eine große Romantikerin: Brigitte Schwaiger.

Als junges Mädchen eine große Romantikerin: Brigitte Schwaiger.

(Foto: Foto: Simon Mark)

Einmal, schreibt Brigitte Schwaiger, war es ein ganzes Stimmen-Konzert, so wie ich in Träumen manchmal von einem Abgrund in den anderen falle, Abgründe, Menschen, Larven, Fratzen...Sie fühlt sich wie in einem Bild von Hieronymus Bosch.

Wir sitzen hoch über Wien im Café, trinken Wasser und eine Melange zur Canetti-Torte, und ich frage die Schwaiger, ob sie ihre Stimmen nicht ausbeuten kann. Einfach mitschreiben, abschreiben oder gebrauchen wie Jeanne d'Arc. Unmöglich, sagt sie, die Stimmen sind einfach zu schrecklich. In Israel hat sie einmal die Stimme eines arabischen Fanatikers gehört. Die wollte sie zwingen, nach Mekka zu gehen.

Man ist dem so schutzlos ausgeliefert, sagt sie. Was kann man dagegen tun? Sie nimmt inzwischen Solian. Das hilft. Wegen der Tierversuche hatte sie anfangs ziemliche Skrupel. Aber dann hat sie gedacht: Danke, liebe Maus, deine Leiden waren nicht vergeblich. Also Solian hat sie immer griffbereit bei sich.

Das Leben ein Schlachtfeld

Und jetzt hat sie zwei brennende Zigaretten in der Hand. Eine rechts, eine links. Ich dachte, die eine sei schon aufgeraucht, sagt sie und fragt vergnügt: wer will? Der Verleger nimmt ihr eine ab. Und sie erzählt weiter aus ihrem Leben, und das klingt wie die Beschreibung eines Schlachtfelds.

Dabei ist sie als junges Mädchen noch die große Romantikerin, träumt sich in Filme hinein, in "Rebecca" und "Vom Winde verweht", glaubt, man müsse als Jungfrau in die Ehe gehen, studiert nach der Matura ein bisschen Germanistik, Romanistik und Psychologie, reist nach Spanien, ins Land der Hitze und der Sinnlichkeit. Da trifft sie auf einer Hühnerfarm Miguel, einen Offizier und Tierarzt. Eine Zeitlang ist er der Mann ihrer Träume. Als sie ihn heiratet, liebt sie ihn schon nicht mehr. Seine Familie bewundert den Faschisten Franco, ihre Familie den Faschisten Hitler, ihr Mann ist ein Macho. Und sie? Sie ist eine Lügnerin, sagt sie. Sie hat am Altar Ja gesagt und Nein gedacht.

Und da sitzt sie denn in der Unglückstinte. Ihre Ehe ist die reine Unterdrückung. Sie schreibt: Er nannte sich einen Juden, der mit der Tochter eines Nazis tun würde, was er wollte. Dabei war er doch auch ein Franco-Anhänger, sagt sie. Er fühlte sich als Retter Spaniens vor dem Bolschewismus. Nach zwei Jahren wird die Ehe geschieden. Sie fährt von Madrid zurück nach Oberösterreich zu den Eltern und will nicht mehr leben. Ein paar Monate später schneidet sie sich mit einer Rasierklinge ins Handgelenk. Der Vater sah das Pflaster und fragte zynisch: "Nicht tief genug geschnitten?"

Sie flieht wieder, studiert Malerei in Linz, nimmt Schauspielunterricht, springt von Beruf zu Beruf, spielt im Kellertheater, arbeitet im Rundfunk, dann im Verlag, liest, fängt an zu schreiben, und 1977 ist er dann da, der Bestseller, der die 26-Jährige berühmt machen wird: "Wie kommt das Salz ins Meer?", dieses erfrischend trostlose Buch, dieser knappe, brillante, lakonische Monolog einer jungen Frau, die versucht, im Meer der Phrasen und Klischees nicht unterzugehen: Die Ich-Erzählerin, die wie die Autorin ein bisschen wahllos studiert hat, heiratet den Mann, den sie nicht liebt und beginnt ein Verhältnis mit einem Arzt.

Als sie schwanger wird, kann der das Malheur eigenhändig beseitigen. Also, der Mann, den ich liebe, hat mein Kind umgebracht, mit einem Mann, den ich nicht ausstehen kann, bin ich verheiratet,(...) und ich will nicht mehr leben.

Lesbisch? Na und!

Soll sie die guten Rasierklingen ihres Mannes nehmen? Einen Eimer holen, den Arm hineinlegen, dann kommt er heim und findet seine Frau teils neben, teils im Eimer. Der Tod als Verlockung ist also schon damals der Refrain ihres Lebens. Heute schreibt sie: Ich bin ja eine Halbtote. Schreibt: den Totenschädel tragen wir ja schon unter den Haaren.

Wir gehen zum Park, den sie schöner findet als den Park in der Psychiatrie. Wir laufen zwischen Ampeln, Autos, Straßenbahnen und Wienern zum Westbahnhof. Der Doktor, der uns begleitet, sagt: Jeder dritte Wiener gehört psychiatriert. Ah, geh, sagt die Schwaiger, wenn ein Wiener den Namen Freud hört, kriegt er doch solche Angst, dass er gar nicht wissen will, wer das war. Dann breitet sie die Arme aus und sagt: Das ist er. Wer? Der Park. Wo? Da sind drei Bäume, sieben Penner und tausend Tauben im kalten Wind.

Vor fünf Jahren, als Brigitte Schwaiger über ihr unglückliches Leben nicht mehr nachdenken mochte, hat sie sich freiwillig in die Psychiatrie einweisen lassen. In einer Gruppen-Therapie traut sie sich zu sagen: Ich bin lesbisch. Und man antwortet ihr: Na und? Das war eine tolle Überraschung. Sagen zu können, dass sie von Frauen träumt, dass sie Männer Jahrzehntelang im Bett enttäuscht hat, weil sie ihnen das Gefühl gab, schlechte Liebhaber zu sein.

Hat die Katholikin Schwaiger ihre lesbischen Gelüste früher gebeichtet? Nein, nie, sagt sie. Ich beichte meinem Psychiater, aber doch nicht einem Priester. Und sie erzählt in ihrem Buch von ihrer Mutter, in die sie als kleines Mädchen so verliebt war. Erzählt, wie sie zusammen in der Badewanne sitzen und sie der Mutter den weißen Busen einseifen darf.

Und hat sie glückliche Verhältnisse mit Frauen gehabt? Nein. Bei Frauen hab ich die Gleichberechtigung gesucht, sagt sie, aber alle wollten mich nur beherrschen. So lebt sie denn im freiwilligen Zölibat. Im Buch heißt es: Körperpflege ja, Körperkult nein. Liebe zu Männern und zu Frauen: ja; mich "ficken" lassen: nein. Abstinenz.

Lesen Sie auf Seite 3, warum sich die Brigitte Schwaiger als Vatermörderin fühlt.

Heillose Traurigkeit

Und so viele in der Psychiatrie sind sexuell missbraucht worden. Von Eltern, Onkeln, Großeltern. Auch Brigitte Schwaiger ist das Opfer ihres Vaters. Ich wollte, ich hätte ihn umgebracht als er mich überfiel in der Kindheit mit einem heftigen Zungenkuß... Sein Mund schmeckte mir nicht, seine Hand quetschte eine meiner kleinen Brüste, ich war im Nachthemd, er saß bei mir auf dem Bett.

Sie ist 12 damals, und die Mutter ist blind oder stellt sich blind, und das Kind ist seit jenem Überfall psychisch gestört. Schon in den siebziger Jahren hat sie in einem Gedicht über den Vater geschrieben: Denn ich stelle mir vor, ich hätte / ihm die Zunge abgeschnitten. / Das Glied meines Vaters / hatte nie so viel mit mir zu tun / wie seine Zunge.

So gehört sie denn zum traurigen Heer der Borderliner, die zu einem Kreuzzug gegen sich selbst aufgebrochen sind, um ihre eigene Identität zu finden. Es ist ein Messer in dir mit scharfer Schneide, schreibt sie, es tut so weh, daß du rennen möchtest hinauf ins höchste Stockwerk und schnell dich hinunterfallen lassen, damit dies Sehnen aufhört, du weißt nicht, wonach...

Am liebsten möchte sie in ein Heim. Möchte eine Annonce aufgeben: Psychisch kranke Frau, von Gesunden mißverstanden, berufsunfähig, wünscht sich Aufenthalt in einer Umgebung mit geschultem Personal. Aber sie ist ja viel zu jung. Ist erst 57. Ins Heim kommen nur Alte.

Sie muss alleine mit sich fertig werden. Und sie denkt dann an ihr Nazi-Elternhaus, denkt an unwertes Leben, das vernichtet werden muss. Solche Sätze hat sie doch immer wieder gehört. Hat sie je mit ihrem Vater über den Missbrauch geredet? Nein, nie, sagt sie. Und wie hat ihre Mutter, die ja noch lebt, auf diese Passage im Buch reagiert? Mit damenhaftem Schweigen, sagt sie.

Eine mitmenschliche Tat

Damals, als der Vater Krebs hat, freut sie sich, dass er bald unter der Erde liegt. Ich freute mich darauf wie ein Kind auf einen Geburtstag. Sie drängt die Mutter, Sterbehilfe zu leisten. Die tut es. Und so stirbt der Vater mit 60 an einer Überdosis Morphium.

Doch kaum ist er begraben, beginnen die Vorwürfe. Die Mutter betrachtete ihre Tat als Mord und belastete mich schwer mit ihrem ratlosen Gesicht. Für die Tochter ist die Tat eine mitmenschliche Leistung. Sie hasste ihren Vater, ja. Aber kein Gehasster, sagt sie, verdient sinnloses Leid. Ein krepier doch!, war nie in ihren Gedanken. Und sie liebte ihn ja auch wieder. Doch wenn sie Briefe von ihrer Mutter bekommt, erinnert die Handschrift sie daran, daß ich eine Vatermörderin bin.

Und wie oft schon ist Brigitte Schwaigers heillose Traurigkeit dem Tod in die Arme gelaufen. Einmal, als ihre Mutter ihr nicht zum Geburtstag geschrieben hat, schluckt sie am Geburtstag ihrer Mutter alle Tabletten, die sie finden kann und spült sie mit Wodka oder mit Gin, sie weiß es nicht mehr, hinunter. Wacht irgendwann wieder auf, liegt in ihrem Erbrochenen. Der Anrufbeantworter blinkt. Er ist vier, fünf Tage nicht abgehört worden. So lange muss sie also bewusstlos gewesen sein.

Machen wir Schluss, sagt Brigitte Schwaiger. Sie sei müde jetzt. Wir sollen sie morgen zu Hause anrufen. Und sollen nicht vergessen, wie verlogen die Österreicher sind. Ihr Buch sei hier ein Tabu. Kein Thema für Verdränger. Niemand will es lesen. Und sie würde doch so gerne wieder selbst verdienen. Sie lebt seit Jahren von der Sozialhilfe, von 600 Euro im Monat.

Schöne Tage und gute Träume

Wir rufen am nächsten Morgen bei ihr an. Niemand hebt ab. Wir versuchen es wieder. Keine Schwaiger. Wir fahren zu ihrem Verleger. Ja, sie hat sich gemeldet, ist bei ihrem Dentisten. Da sollen wir sie abholen.

In der Mariahilferstraße, ein paar Treppen hoch, empfängt uns Oskar Weinmann, der auf die achtzig zugeht und den wohl jeder in Wien kennt. Er zieht uns in die Wohnung hinein. Kommen Sie, sagt er, öffnet das Fenster und schiebt uns auf den Balkon. Da unten ist sie immer in der Kutsche vorgefahren. Wer? Na, die Sissi! Ach so. Und an der Wand im Wartezimmer hängen alle Prominenten Österreichs: Schauspieler, Sänger, Sportler, Politiker. Abends im Fernsehen, sagt er, lachen mich alle meine Gebisse an. Oskar, wir müssen gehen, sagt Brigitte Schwaiger und küsst ihn.

Wir gehen ins Café Ritter, wo Wien sich am ähnlichsten sieht. Da wollen wir das letzte Foto machen. Draußen scheint die Sonne, und unsere Autorin ist vergnügt, hat gut geschlafen, ist früh aufgestanden, bestellt eine Melange. Was ist ein schöner Tag für sie? Wenn sie im Verlag ist. Da bin ich übermütig, sagt sie. Aber nachts wird sie dann mit schlimmen Träumen dafür bestraft. Mit Forderungsträumen. Immer soll sie was tun, tausend Sachen auf einmal.

Und gibt es auch gute Träume? Ja, sagt sie. Dann steht meine Mutter da und will auch, dass ich was tu. Ich bin aber blind. Und sag meiner Mutter: Du, Mutti, ich bin blind. Ich kann das nicht machen. Das ist dann ein guter Traum. Und wann hat sie das Selbstportrait gemalt, das auf dem Cover ihres Buches ist? Vor zehn Jahren. Da wollte sie im Alkoholrausch ihre Depression malen.

Ute Mahler sagt, das Licht sei gerade so schön. Sie möchte jetzt das Portrait machen. Da sagt Brigitte Schwaiger: Nein. Sie sagt es hart und konsequent. Nein. Aber vorhin hat sie doch noch...Nein. Sie sitzt da in der Ecke auf dem alten Ledersitz, lehnt ihren Kopf an den blinden Spiegel und schließt die Rüstung. Legt noch die Arme um sich, auf denen ihre verheilten weißen Brandflecken zu sehen sind.

Sie müssen bedenken, dass ich psychisch nicht gesund bin, sagt sie. Das ist amtlich bestätigt. Sie zieht ihren Schwerbeschädigtenausweis aus der Tasche und reicht ihn uns rüber. Im Aschenbecher raucht sich ihre Zigarette mal wieder allein auf. Sie hat sich längst eine neue angezündet. Raucht sie noch immer 60 am Tag? Nein, sagt sie. Ich rauche eine nach der anderen. Danach stirbt das Gespräch. Und die Fotografin sieht dauernd das Bild vor sich, das sie nicht machen darf. Es ist Zeit zu gehen.

Zu dieser Zeit liegt in Hamburg bereits ein vierzehn Seiten langer Brief, in dem Brigitte Schwaiger schreibt, dass sie voll Ungeduld auf uns wartet.

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