Erinnert sich noch jemand daran, wie kurz vor dem Ende des Wahlkampfes in den USA hiesige Kommentatoren besorgt fragten, ob und wie es den Amerikaner gelingen könne, die aufgeworfenen Gräben wieder zuzuschütten? Damals war Donald Trump noch derjenige, der die Gesellschaft spaltete. Dann gewann er die Wahl, in Europa brach der Jubelchor der Rechtspopulisten aus, und nun richtet sich plötzlich der Vorwurf, die Gesellschaft zu spalten, gegen die Wahlverlierer.
Hillary Clinton und die Demokraten, so befand der Ideenhistoriker Mark Lilla in der New York Times, seien wegen ihrer Fixierung auf "diversity" gescheitert, wegen der ständigen Adressierung von Frauen und Minderheiten wie Afroamerikaner, Latinos, Lesben, Schwule, Transgender. Dafür hätten sie die Quittung bekommen, indem zwei Drittel der weißen Wähler ohne College-Abschluss und achtzig Prozent der weißen Evangelikalen für Trump stimmten, da sie sich von der Clinton-Kampagne ausgeschlossen fühlten. Die Demokraten müssten sich eingestehen, dass mit der Trump-Wahl das "Ende des Identity-Liberalismus" gekommen sei.
"All men are created equal" - aber wer gehört zu diesen Menschen und wer nicht?
Nicht nur in den USA, auch in Deutschland findet diese Lesart Zustimmung, auch in liberalen Blättern wie der Zeit. Und bei Abendeinladungen in Berlin trifft man auf eine Art Katzenjammer-Liberalismus, der mit der "Diversity" und der klassisch-liberalen Sorge um die Minderheiten hadert, um nur ja den erstarkenden rechtspopulistischen Bewegungen keine Angriffsfläche zu bieten. Es war aber aus guten Gründen nie eine liberale Idee, vitale Minderheitsinteressen zur Disposition zu stellen, um mehrheitsfähig zu werden. Schon gar nicht ist es nach der Trump-Wahl eine gute Idee.
Es klingt überaus vernünftig, vor "Diversitätsfixierung" zu warnen. Aber wer in die politische Arena steigt, sollte sich seine Begriffe nicht vorgeben lassen. Ein Liberalismus, der sich weismachen lässt, die Rücksicht auf "Diversität" gefährde die Universalität seines Gesellschaftsmodells zugunsten von Partikularinteressen, hat schon verloren. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Der Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, "that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights", hat erst durch die verschiedenen "Diversitäten", die ihn in Anspruch nahmen, seine Abstraktheit verloren.
Die Menschenrechte wie die Bürgerrechte sind in einem Prozess der gestaffelten Inklusion ausgestaltet worden. Und immer waren die Inklusionen umstritten. Erst waren "all men" nur die Männer; die Frage, ob zu den "all men" auch die Sklaven gehören, war ein vitales Konfliktmotiv im amerikanischen Bürgerkrieg, und später fielen weder das Frauenwahlrecht noch die Bürgerrechte der Afro-Amerikaner oder die Aufhebung von Schwulenparagrafen vom Himmel. "Das Wir wird größer", so könnte man mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty diesen Prozess der sukzessiven Inklusion beschreiben.
Ein anderes Wort für Inklusion ist "Aufhebung von Ausschlüssen". Liberale tun gut daran, die "Diversität" in diese Perspektive zu rücken, statt sie mit Mark Lilla als Ausdehnung oder gar Überdehnung des politischen Kerngeschäfts erscheinen zu lassen. Sie sollten es sich nicht nehmen lassen, den Schwungradeffekt normativer Setzungen in Anspruch zu nehmen. Wenn die Formel "all men are created equal" einmal etabliert ist, lädt sie dazu ein, Ansprüche zu formulieren. Das Frauenwahlrecht ist dafür ein gutes Beispiel. Es konnte als "Ausweitung" des Wahlrechts erscheinen, aber die Kampagnen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht lebten davon, dass sie ein Recht einklagten, das zu Unrecht vorenthalten wurde.