Populismus:Aushöhlen, gleichschalten, hetzen

Verfassungsrichter und andere Juristen überlegen in Berlin, wie der Rechtsstaat in Europa zu retten ist.

Von Wolfgang Janisch

Die Zukunft ist dunkel, man sieht keinen Meter weit, heißt es am Ende des Theaterstücks "Europa flieht nach Europa", das gerade im Karlsruher Staatstheater gezeigt wird. Bedrückende Bilanz einer europäischen Geschichte, in der die demokratische Hoffnung längst nicht mehr leuchtend ist. Im Berliner Wissenschaftskolleg haben sich dieser Tage europäische Juristen getroffen, um vielleicht doch weiter vorauszublicken als nur ein paar dunkle Zentimeter. Es ging um den Niedergang des Rechtsstaats in Staaten wie Polen und Ungarn; inzwischen muss man auch Rumänien hinzuzählen. Die Juristen wollten ausloten, ob es in diesem eng verflochtenen Europa nicht doch ein paar Stellschrauben gibt, um die Zerstörung rechtsstaatlicher Strukturen aufzuhalten.

Eingeladen hatten Andreas Voßkuhle und Peter Huber vom Bundesverfassungsgericht sowie der Völkerrechtler Armin von Bogdandy und der österreichische Verfassungsrichter Christoph Grabenwarter. Juristen aus Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn saßen in der Runde, sowie aus Venezuela, wo man fröstelnd besichtigen kann, wie ein Verfassungsgericht nicht Opfer des Demokratieabbaus ist, sondern Akteur. Überhaupt, wer da war und wer nicht, das erzählte schon die halbe Geschichte. Aus Warschau waren nur Richter zugegen, die noch vor der Pis-Regierung ins Amt gekommen waren. Neu ernannte Richter waren laut Veranstalter eingeladen, hatten aber abgesagt; einer schickte ein Papier. Aus Budapest waren zwar Richter angereist, die Viktor Orbáns Fidesz-Regierung installiert hat. Sie verteidigten freundlich ihren "funktionierenden demokratischen Rechtsstaat". Ein wirkliches Gespräch wurde daraus trotzdem nicht.

Liegt in der Krise eine Chance? Schließlich hat die EU reagiert und den Druck auf Polen erhöht

Aber Kern der Veranstaltung war ohnehin weniger die Diagnose, eher die Therapie. Was ist zu tun, wenn autokratische Regierungen ihre Verfassungsgerichte zuerst aushöhlen und dann gleichschalten - und dies innerhalb der EU? Die Mehrheit der Teilnehmer nahm mit Zustimmung zur Kenntnis, dass der Europäische Gerichtshof hier vorangeht. Mit dem Vertrag von Lissabon war einst der Übergang zur Werteunion eingeleitet worden. Und mit mehreren Urteilen schickt sich der EuGH derzeit an, aus den weichen Werten harte juristische Begriffe zu formen, aus denen sich Urteile gewinnen lassen. Polen hat dies jüngst zu spüren bekommen: Mit einer einstweiligen Anordnung untersagte der EuGH Frühpensionierungen, die einzig dazu gedacht waren, nach dem polnischen Verfassungsgericht auch den Obersten Gerichtshof auf Linie zu bringen. Polen lenkte zähneknirschend ein, vorerst jedenfalls.

Droht da eine "Tyrannei der Werte?" Armin von Bogdandy lieh sich den Titel seines Vortrags von Carl Schmitt aus, dem umstrittensten deutschen Juristen des vergangenen Jahrhunderts, um damit die Kritik aus Polen und Ungarn gegen die forsche Linie des EuGH gleich bei den Hörnern zu packen. Schmitt hatte einst eine "wertzerstörerische Wertentwicklung" brandmarken wollen. In diesem Sinne hatte der polnische Botschafter "Brüssel" eine linksliberale Ideologie vorgeworfen - also eine Art Tyrannei europäischer Werte über die polnische Version von Rechtsstaatlichkeit. Selbstverständlich endete von Bogdandy damit, dass von Tyrannei keine Rede sein könne. Nur trägt diese Feststellung nicht viel zur Verteidigung europäischer Werte bei. "Es reicht nicht aus, recht zu haben."

Nicht nur juristische Strukturen erodieren, sondern womöglich der Begriff "Rechtsstaat" selbst

Aber könnte in der Krise vielleicht eine Chance liegen? Die europäischen Institutionen reagieren auf den Abbau des Rechtsstaats und erhöhen den Druck; die EU-Kommission hat bereits ein Rechtsstaatsverfahren eingeleitet. Zudem könnte auch die Stunde des "europäischen Verfassungsgerichtsverbunds" sein, jenes Clubs der obersten Richter, der an einer europäischen Verfassungsevolution arbeitet. Inzwischen reihen sich auch Gerichte anderer Staaten ein, sie haben im eng vernetzten Europa durchaus ihre Möglichkeiten, auf ihr Verständnis von Rechtsstaat zu beharren. Ein schottisches Gericht hat es kürzlich vorgemacht und eine Auslieferung nach Polen infrage gestellt - weil dort keine unabhängige Justiz gewährleistet sei. Dann würden die Akteure in Europa gemeinsam an der Schaffung einer Werteunion arbeiten, die den Namen verdient, als gemeinsame Bewahrer auch des polnischen Rechtsstaats. "Der Hüter der polnischen Verfassung ist europäisiert", sagte von Bogdandy.

Eine schöne Vision, aber der Tenor der Tagung war ein anderer: Für Optimismus ist es zu früh. Niemand weiß, wie die Sache ausgeht, die Zukunft ist dunkel. Der Europäische Gerichtshof mag im Zentrum des Rechtssystems sitzen, aber um sich in Europa durchzusetzen, genügt es nicht, den Platz oben in der Hierarchie einzunehmen. Es reicht eben nicht, recht zu haben.

Gewiss, das oberste EU-Gericht bleibt der wichtigste Hebel. Aber seine Durchsetzungskraft müsste sich auch aus seinem Ansehen speisen - und darum ist es in den europaskeptischen Ländern nicht sonderlich gut bestellt. Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle wies zudem darauf hin, dass die Rechtsstaatsverteidigung des EuGH letztlich in die Justizhoheit eingreift, also in eine der wenigen noch nicht europäisierten Domänen der Mitgliedstaaten. Das ist bekanntermaßen gefährliches Terrain. Wer diesen Kurs einschlägt, muss aufpassen, dass er den Nationalisten in Warschau oder Budapest nicht zusätzliche Angriffspunkte bietet. Überhaupt ist die Sache mit der Rechtsstaatlichkeit nicht ganz so einfach, denn sie hat viele Gesichter. "Der Rechtsstaat ist kulturell eingebettet", sagte Voßkuhle und gab ein Schweizer Kuriosum zum Besten. Dort müssen Bundesrichter einer Partei angehören, um gewählt zu werden - und geben ihr einen Teil ihres Salärs ab, wenn sie gewählt sind. Da sträuben sich dem deutschen Juristen die Nackenhaare; ein Rechtsstaat ist die Schweiz dennoch.

Solche Absonderlichkeiten hinzunehmen, bedeutet aber nicht, einem Relativismus das Wort zu reden, nach dem Motto: Die einen sind liberal, die anderen halt autokratisch. Auch wenn der gemeinsame europäische Nenner klein ist, beliebig ist er nicht. Zum Kern der Rechtsstaatlichkeit zählt die richterliche Unabhängigkeit, und hier ist die Sache glasklar: Ein Richter ist unabhängig, oder er ist es nicht, sagte Christoph Grabenwarter. Man kann nicht ein bisschen unabhängig sein, so wie man nicht ein bisschen schwanger sein kann. Anders ausgedrückt: Die "rote Linie" verläuft dort, wo ein Verfassungsgericht ausgeschaltet oder gleichgeschaltet ist.

Aber auch hier zeigte die Tagung, wie schwer man sich mit der Herstellung von Eindeutigkeiten tut. Die Verfassungsgerichte in Polen und Ungarn schreiben ja weiterhin Urteile, und dort, wo keine politisch heiklen Materien betroffen sind, können die Ergebnisse durchaus ordentlich sein. Aber kann man dann noch von einem echten Verfassungsgericht sprechen? Oder sind es zwei Gerichte: das eine politisch fügsam, das andere juristisch überzeugend? Wäre das vielleicht sogar ein kluger Weg, um im Populismus zu überwintern und nach einer politischen Wende wieder aufzublühen? Oder ist ein janusköpfiges Verfassungsgericht in Wahrheit nur eine leere Hülle ohne Funktion? "Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine Art struktureller Opposition gegen Mehrheitsentscheidungen", gab Peter Huber zu bedenken. Man denke nur an den Minderheitenschutz: Man kann im verfassungsrichterlichen Kerngeschäft nicht jahrelang pausieren, ohne die Identität zu verlieren.

So glaubt Voßkuhle auch nicht an einfache Lösungen durch einen einzigen genialen juristischen Kunstgriff, sondern hält eine gemeinsame und wahrscheinlich zähe politische Anstrengung für notwendig - mit ungewissem Ausgang. "Ich war schon optimistischer." Denn nicht nur juristische Strukturen erodieren, sondern womöglich der Begriff "Rechtsstaat" selbst. Darauf spielte die Frage des großen Verfassungsrechtlers Dieter Grimm an: "Was machen wir mit der roten Linie, wenn die Hälfte der europäischen Staaten populistische Regierungen hat?"

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