Popsängerin Charli XCX in Berlin:Hyperreale Cyborggesänge

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Quintessenz der Streaming-Ära: Charli XCX am Samstagabend im Berliner Astra. (Foto: imago images/Martin Müller)

"It's Pop, but it's not": Beim Konzert in Berlin bewies die britische Sängerin Charlotte Aitchison alias Charli XCX, dass derzeit niemand aufregenderen Mainstream-Pop macht.

Von Jan Jekal

In den vergangenen Jahren betrat die britische Popsängerin Charli XCX häufig schon die Bühne, während die meisten im Publikum noch ihre Plätze suchten oder Pommes bestellten. Natürlich nicht freiwillig. Für eine ganze Reihe von Superstars gab die 27-Jährige die Anheizerin, tourte mit Taylor Swift, Katy Perry und Coldplay durch die Stadien und Mehrzweckhallen der Welt. Wahrscheinlich hat sie dort ihre Fähigkeiten als unermüdliche Animateurin gelernt. Es vergeht jedenfalls am Samstagabend bei ihrem ganz eigenen Konzert im Berliner Club Astra kaum eine Strophe und kaum ein Refrain, ohne dass sie ihr Publikum auffordert, jetzt mal so richtig auszurasten. Berlin sei doch eine so verrückte Stadt, das solle man ihr nun beweisen, ruft sie an einem Punkt, an dem die selige Partygemeinde bereits an der Grenze der Belastbarkeit tanzt.

In einer Liga mit den oben genannten Superstars spielt Charlotte Aitchison alias Charli XCX auch nach der Veröffentlichung ihres viel gelobten neuen Albums "Charli" noch nicht, obwohl - oder weil - sie weitaus aufregendere Popmusik macht. Das Astra ist nicht ausverkauft, man bekommt sogar noch kurz vor Konzertbeginn im vorderen Drittel des Saals problemlos einen Platz. Das Bühnenbild lässt Sparmaßnahmen erahnen. Charli ist allein, es gibt keine Tänzer, keine Kostüme, keine Leinwände und keine Band, sondern Musik vom Band mit Live-Gesang, und hinter ihr eine heftig blitzende, flirrende, flackernde Lightshow. Man begreift sogleich, weshalb sie die Bühne mit Sonnenbrille betreten hat. Ob das wohl aufgeht, fragt sich der zunächst skeptische Rezensent. Aber es geht auf. Und wie! Dank Charlis Einsatz, ja, vor allem aber dank der Qualität ihrer Musik.

Charli XCX ist eine quintessenzielle Figur der Streaming-Ära, einer Pop-Epoche, in der subkulturelle Allianzen wenig gelten und in der Stile und Referenzen wild vermischt werden. Neben in den Pop-Kanon aufgenommener Tanzmusik bedient sich Charli CXC bei Kitsch und Camp, zitiert Musiken ohne Prestige und kulturelles Kapital, den Teen-Pop Britney Spears' zum Beispiel, oder Trance und Eurodance. Sie verwendet polierte Plastik-Sounds, funkelnde Synthesizer in epischen Hallräumen, verfremdet ihre Stimme zu einem hyperrealen Cyborggesang und zerschießt diesen Wohlklang mit digitalen Störgeräuschen. Ihre wichtigsten Kollaborateurinnen kommen seit einigen Jahren aus dem Künstlerkollektiv PC Music, das die Top-40-Pop-Ästhetik der späten Neunzigerjahre reproduziert und durch Überhöhung die Abgründe von deren Künstlichkeit herausstellt. Allerdings macht der avantgardistische Ansatz Charlis Songs nicht weniger eingängig. Sie sind letztlich weniger Dekonstruktion der Pop-Maschinerie als lustvolle Kapitulation vor ihren spiegelglatten Oberflächen.

Einer ihrer besten Songs, "Boys", ist eine Bubblegum-Pop-Offensive, in der sie über Gameboy-Pieptöne und einem karibisch hüpfenden Beat seufzt, dass sie an nichts anderes mehr denken könne als an Jungs. In einer der wenigen Pausen des Konzerts sagt sie, dass sie die Art Popmusik mache, die nicht in die Charts komme. Das stimmt nicht so ganz, schließlich sind einige der erfolgreichsten Singles der vergangenen Jahre von ihr. "I Love It", das sie mit 19 Jahren in einer halben Stunde geschrieben hat, wurde in der Version des schwedischen Electro-Duos Icona Pop zum Sommerhit. Den Bombast-Stampfer - mit dem Ohrwurm-Refrain "I! Don't! Care! I love it!" - spielt sie im Astra auch als Zugabe, und kündigt ihn sympathisch unbescheiden als "Smash Hit" an. Als Performerin jedoch, das meint sie, ist ihr der Durchbruch bisher verwehrt geblieben. Es sind noch nicht die Stadien-Bühnen, die sie betritt, zumindest nicht, wenn sie das Hauptprogramm ist.

Für ihr Werk ist diese Außenseiterposition aber eher ein Vorteil. Kaum vorstellbar, dass der bürokratische Apparat, der die Songs der meisten Superstars zu Tode schleift, ihre aberwitzigen Pop-Ideen ungeschoren davonkommen lassen würde. "It's Pop, but it's not", sagt sie an einem Punkt, und besser lässt sich ihre Musik nicht beschreiben.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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