Süddeutsche Zeitung

Popkultur:In der Mausefalle der Rockgeschichte

Die Künstler Billy Morrison und Plastic Jesus lassen den legendären Tower-Records-Laden auf dem Sunset Strip wieder auferstehen

Von Jürgen Schmieder

Der Hals dieser Gitarre, einer roten Gibson Explorer, sieht aus wie der Arm eines Zombies. Die Kopfplatte ist im Boden vergraben, der Rest ragt heraus, und weil Ozzy Osbourne, Billy Idol und Juliette Lewis mit gesenkten Köpfen davorstehen, wirkt es ein wenig wie eine Beerdigung. Es ist schon möglich, dass die Rockmusik gestorben ist, zumindest der wirklich coole Teil, als dieser Plattenladen auf dem Sunset Strip in Los Angeles vor zehn Jahren geschlossen wurde. Einige Installationen und Gemälde des Straßenkünstlers Plastic Jesus und des Gitarristen Billy Morrison jedenfalls deuten genau das an. "Anesthesia - The Art of Oblivion" heißt die gemeinsame Ausstellung in der ehemaligen Tower-Records-Filiale. Die Kunst des Vergessens. Narkotisiert.

"Es war kein Geschäft, weil hier niemand was kaufen musste", sagt Billy Idol: "Es war der Knotenpunkt für alle Musiker. Wer nach Los Angeles gekommen ist, der ist sofort hierhergefahren." Der Viper Room, in dem der Schauspieler River Phoenix im Jahr 1993 während eines Konzerts von Johnny Depp starb, liegt auf der anderen Straßenseite. Das Whisky a Go Go, in dem Bands wie The Doors, Van Halen und Guns'n Roses ihre ersten Konzerte gespielt haben, ist nur 200 Meter entfernt. Gleich daneben gibt es den Rainbow Bar and Grill, in dem Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister literweise Whiskey in sich hineinschüttete und sein Geld in den Videopoker-Automaten am Ende der Bar warf.

Tower Records war eine Plattenladenkette, gewiss, 189 Filialen gab es weltweit. Und doch war dies keine Fast-Food-Filiale. Das 1971 eröffnete Geschäft in Los Angeles glich eher einer heiligen Halle der Rockmusik. "Es ist wie im Himmel", sagte John Lennon in einem Werbespot für dieses Geschäft. Natürlich wurde im Himmel damals viel Geld verdient: Im Jahr 1999 lag der weltweite Umsatz bei mehr als einer Milliarde Dollar.

"Was wir damals für einen Mist gebaut haben", sagt Idol und ballt die Faust. Dabei blickt er nicht wehmütig, sondern mit diesem Super-dass-ich-dabei-war-Ausdruck, den nur Rockstars hinbekommen, die gesehen haben, was sich viele Menschen nicht mal vorstellen können. "Jeder war hier willkommen", schwärmt Idol: "Egal, wie er aussah oder welche Musik er mochte. Die Stimmung war immer so, dass jederzeit eine Party beginnen konnte."

Und sie haben wüste Partys gefeiert. Alice Cooper lieferte ein paar Exemplare seines Albums "Trash" ab. David Lee Roth baute für die Premiere seines Werkes "Skyscraper" auf dem Dach ein Mini-Matterhorn und rutschte hinab. Bruce Springsteen, Lou Reed und Elton John gaben spontane Livekonzerte. Der wahre Zauber jedoch lag darin, dass, wie frühere Mitarbeiter nun erzählen, jeder selbst sauber machen musste, wenn er sich übergeben hatte. Ein Rockstar war so wichtig wie der Typ an der Kasse. Und selbst der war oft eine zumindest künftige Berühmtheit.

Axl Rose verkaufte hier Videos, David Bowie war Kunde und philosophierte in den Gängen

Dave Grohl beispielsweise stand vor seiner Zeit als Drummer von Nirvana an der Kasse ("Mit meiner bescheuerten Frisur hätte ich nirgendwo sonst einen Job bekommen"). Axl Rose arbeitete in der Videoabteilung. David Bowie philosophierte als Kunde in den Gängen über den Sinn britischer Produkte in den USA. Lars Ulrich von Metallica drückte einem eine Platte von Korn in die Hand und erklärte, dass das eine Band sei, die man unbedingt hören müsse. Wer das Geschäft mit einer gelben Tüte mit roter Schrift verließ, der wusste, dass er einen kleinen Schatz nach Hause trug. Nur "Purple Rain" von Prince war irgendwie dauernd ausverkauft.

Inzwischen ist es bequemer und billiger, Musik über Streamingdienste zu bekommen, als seine Zeit in einem Plattenladen zu verschwenden und dann mit diesen riesigen Dingern aus Vinyl oder ein paar Kassetten abzuziehen. Und wenn Dave Grohl in der wunderbaren Tower-Records-Dokumentation "All Things Must Pass" sagt: "Ich weiß auch nicht, warum es Tower Records nicht mehr gibt", dann muss man ihm antworten: Ganz einfach, vor zehn Jahren kaufte kaum jemand noch Musik in solchen Läden.

Tower Records beantragte im Jahr 2004 zum ersten Mal Gläubigerschutz, im Dezember 2006 schloss die Filiale in Los Angeles. Auf dem Billboard war der Titel eines R.E.M.-Songs zu lesen: "It's the End of the World As We Know It". Es war das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Was fehlte, war der optimistische Zusatz "And I Feel Fine", es geht mir gut dabei.

Die Ausstellung beschäftigt sich weniger mit der Kunst des Vergessens als vielmehr mit der Popkultur der Gegenwart. Auf der Bühne in der Ecke steht eine goldene Kanye-West-Statue in Kruzifix-Pose, die Plastic Jesus in der Woche zuvor auf dem Hollywood Boulevard aufgestellt hatte. Daneben hängt ein riesiges Gemälde mit der Botschaft: "Stop Making Stupid People Famous", macht dumme Menschen nicht länger berühmt. Davor liegt eine riesige Mausefalle, die Köder sind Kokain und Kreditkarten. "Es gab eine Zeit, da haben wir Menschen aufgrund ihres Könnens, ihrer Intelligenz oder ihres Talents bewundert", sagt der Künstler: "Jetzt lassen wir Typen berühmt werden, von denen wir nicht einmal wissen, was sie überhaupt machen."

Es gibt eine in Dollarscheine eingewickelte Fußball-WM-Trophäe, eine Massive-Shooter-Barbie und das Gemälde eines traurigen Robin Williams. Beinahe überall gibt es Hinweise auf Drogen und Popkultur. "Wir schaufeln unser Leben voll mit irgendwelchem Zeug, damit wir der Realität narkotisiert begegnen können", sagt Morrison, während er vor einer überdimensionalen Nadel steht, aus der blaue Glitzersteinchen auf den Boden fallen: "All dieses Glitzerzeug, ob Musik, Fernsehen, Sex oder Religion: Wir konsumieren, um den Schmerz über die Realität zu lindern."

Es ist eine faszinierende Ausstellung in den heiligen Hallen der Rockmusik, und der Glanz der berühmten Gäste strahlt ab auf all die Bilder und Installationen. Juliette Lewis steht vor einem Gemälde, das sie in ihrer Rolle im Film "Natural Born Killers" zeigt. Fred Durst überprüft, ob die Mausefalle wirklich zuschnappt, wenn er die Hand nach Koks und Kreditkarten ausstreckt. Billy Idol tut so, als würde die Spitze der riesigen Nadel direkt in seinen linken Arm führen. Und Ozzy Osbourne steht irgendwann mit gesenktem Haupt vor der roten, zombieartigen Gibson Explorer. Er betrauert nicht den Tod von Rock 'n' Roll. Er tippt auf seinem Telefon.

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Quelle:
SZ vom 01.03.2017
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