Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Unterwasserstimmung

Lesezeit: 2 min

Die Orsons erklären Mozart die Welt der Gegenwart, derzeit gibt es nirgends eine spannendere Jazzszene als in London, und den Namen Rico Nasty sollte man sich merken.

Von Annett Scheffel

Was würde Mozart wohl zu Deutschrap sagen? Fände er Streaming-Algorithmen standesgemäß? Und Auto-Tune cool? Derlei Gedankenexperimente gibt es auf "Orsons Island" (Chimperator/Vertigo), dem neuen Album der vier Rapper, die sich unter dem Namen Die Orsons zu einer Art Hip-Hop-Boygroup zusammengetan haben und mit ihrem ironischen, enorm unterhaltsamen Stil seit Jahren eine Leerstelle des Deutschraps erkunden - nämlich zwischen Fun und Ernsthaftigkeit, zwischen Old-School- und Gangsterrap, Popmusik und Trap, zwischen smartem Wortwitz, intimer Selbstbeobachtung und Zweifel als Grundmodus. Meistens treffen ihre Tracks mit erstaunlicher Zielsicherheit die goldene Mitte. Wenn sie nun also in "Dear Mozart" den "verehrtesten Wolfgang" postum befragen, dann geht es nicht nur um die musikalische Legitimität von Computer-Beats, sondern auch um "Autotune unrelated topics" wie das Selbstverständnis der Szene oder die politische Großwetterlage (Rechtsruck, Bürgerkrieg in Syrien, Strache auf Ibiza): "Diese Na... - ach, was sag ich, Nazis? Wolfgang, du weißt ja nicht einmal, wer Hitler war." Und da sind wir erst in der ersten von vier Phasen, die das Album durchläuft: "Kapitel 1: Virtuelle Realität - ewig schon wach". Auf Party und Zeitgeist folgt der Abgrund am Morgen danach, drittens Aufbruchsstimmung und schließlich ein paar (wie immer natürlich nicht einfache) Antworten. Dazu gibt es nebelverhangene Synthie-Flächen, vibrierende Basslines und reichlich Tempowechsel.

Der Schlafzimmer-Pop für das Jahr 2019 kommt von einer jungen Amerikanerin: Auf ihrem Debütalbum "Immunity" (Caroline) spielt und singt Clairo einen charmant zwischen Lustlosigkeit und Intimität oszillierenden Lo-Fi-Pop. Bekannt geworden ist die 20-Jährige 2017 mit einen Youtube-Hit: Der wunderbar dilettantische Webcam-Clip, in dem sie mit selbstverlorenem Blick und Kopfhörern in den Ohren ihren Song "Pretty Girl" runterträllert, zählt mittlerweile mehr als 36 Millionen Aufrufe auf Youtube. Das Geheimnis von Clairos immer melodischen, aber vage und vernebelt wirkenden Pop-Miniaturen ist das Nebeneinander von Alltäglichkeiten (runtergeschluckte Kaugummis, "Flaming hot Cheetos") und den zwischenmenschlichen Frustrationen eines Teenagers. Dass auf Albumlänge der Versuch glückt, Sounds aus dem Post-Internet-Fundus einzubauen (Trap-Beats, verschlissene Synthesizer, Stimmverzerrung), bringt Clairo in Stellung: als Indie-Pop-meets-Mainstream-Star einer neuen Dekade.

Erinnert sich eigentlich noch jemand, wann es zuletzt eine so vibrierende lokale Jazzszene gab wie derzeit in London? Muss irgendwann in den Siebzigern gewesen sein. Nun gibt es alle paar Monate neue aufregende Platten, die zudem in einem breiteren, popmusikalischen Kontext Beachtung finden. Dazu gehört auch Nérija, ein Septett, das auf seinem Debüt "Blume" (Domino) mit derart furiosen, agilen Jazzkompositionen aufspielt, dass es nahezu unmöglich ist, nicht mindestens mit den Fingerspitzen mitzuwippen. Tief im Inneren der kaleidoskopischen Fusion-Melodien steckt eine Vielzahl von Einflüssen, die aber weniger konkrete Referenzen als Dialekte einer musikalischen Sprache der Band zu sein scheinen: Man hört Afrobeat, Soul und Hip-Hop, UK Garage, den exzentrischen Miles Davis, Blaxploitation-Soundtracks und hier und da - wie im weitschweifigen Siebenminüter "EU (Emotionally Unavailable)" - sogar Spuren von Post-Rock-Klangschleifen, wie sie Sigur Rós in den Nullerjahren spielten. All das existiert bei Nérija gleichzeitig - und verdichtet in einer warmen, sprudelnden Unterwasserstimmung.

Zum Schluss sei unbedingt noch auf Rico Nasty hingewiesen: Die Amerikanerin steht im Zentrum einer Gruppe von talentierten Rapperinnen, die das männerdominierte Genre mit einer Vielzahl neuer Perspektiven und Kreativansätze beleben. Bemerkenswert war bereits das Mixtape "Anger Management", auf dem sie sich in 18 rasant, heiser, übersteuert, aber immer reflektiert gerappten Minuten mit dem Thema Wut auseinandersetzt. Für die neue Single "Times Flies" (Sugar Trap) hat Rico Stimme, Themen - und Möglichkeiten - noch einmal enorm ausgedehnt: Hier geht es um den Mut, sich das Leben in großen Dosen zu nehmen, als würde man abends bereits tot sein, hier geht es um den Kampf mit sich selbst, um Emanzipation einer jungen afroamerikanisch-puertoricanischen Frau. Man schreibt das als Popkritikerin nicht gerne, aber ... Merken Sie sich diesen Namen, Sie werden von dieser Frau hören!

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Quelle:
SZ vom 31.07.2019
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