Popkolumne:Tosen, toben, tupfen

Die Popereignisse der Woche. Diesmal mit neuer, famoser Musik von Rhye und H.C. McEntire und der Frage, was eigentlich gute Sexmusik ist.

Von Julian Dörr

Rhye Cover

Was unterscheidet gute Sexmusik eigentlich von schlechter Sexmusik? Im Grunde genau das, was gute Popmusik von schlechter Popmusik unterscheidet. Die zitternde Spannung, das große Verzehren und die noch größere Erfüllung, wenn alles zusammenkommt und harmoniert in einem flüchtigen, idealen Moment. "Blood" (Caroline), das neue Album von Rhye, ist demnach sehr gute Sexmusik. Nicht weil es sich lyrisch und ästhetisch gänzlich ungehemmt in diesen Topos stürzt. Nicht weil da einer elf verträumte R'n'B-Songs lang den Körper und den Herzschlag und den Schmerz und den Atem des anderen spüren will. Sondern weil Rhye eben sehr gute Popmusik machen. Musik, die sich sehnt und windet, die ganz leise tost und tobt und ganz laut schweigt und schwelgt. Der pluckernde Bass, der diese Produktionen von tief unten anschiebt, das sanfte Flöten der Orgel, die Synthie-Tupfer. Und dann ist da noch diese Stimme. Die Stimme des kanadischen Sängers Mike Milosh, die sich jeder geschlechtlichen Zuordnung entzieht und die genau deshalb zu den verführerischsten Stimmen der Stunde zählt. Wenn er seine Worte gegen den zarten Beat haucht, ist es vollends egal, ob das die weiblichste Männerstimme oder männlichste Frauenstimme ist. Dann geht es nur noch um den einen, den perfekten Popmoment, in dem für einen Augenblick alles gut ist.

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Ein weiterer, sehr cleverer Pop-Schatz dieser Tage ist "Lionheart" (Merge) von H. C. McEntire. Die Amerikanerin aus North Carolina spielt in der Tour-Band von Angel Olsen und hat sich auf ihrem Solodebüt dem hehren Ziel verschrieben, die Country-Musik von der heteronormativen Gesellschaft zurückzuerobern. Man kann sich nun sehr gut vorstellen, wie die um den Untergang des Country (und der Zivilisation) sehr besorgten DJs aller Lokalradiostationen von Nashville bis Charlotte bei diesen Worten zusammenzucken und ihre Kopie ungehört in den Papierkorb bugsieren. Was sie verpassen, ist eine feinsinnig beobachtete, behutsam gedichtete und herrlich kitschig arrangierte Platte, die davon erzählt, wie eine lesbische Frau zu Gott findet. Eine Platte, aus der die gute, warme Seele der Südstaaten herüberhallt. Die immer wieder die Nähe zum Gospel sucht. Und die aus christlicher Bildsprache eine Geste progressiver Selbstermächtigung formt: "I have found heaven / In a woman's touch", singt McEntire in "A Lamb, A Dove". Und weiter: "It's a wild world / That will make you believe / In a kingdom full of mercy and faith". Archetypische Countryzeilen, klar. Aber singt sie eine Frau, ist gleich nichts mehr, wie es war im erzkonservativen Genre. Man kann das unter "Christlicher LGBTQ-Country" ablegen. Und dann die Schublade ganz schnell wieder vergessen. Weil H. C. McEntire so fantastisch frisch und eindringlich und leidenschaftlich klingt, wie nur eine Stimme klingen kann, die schon lange gehört werden will und jetzt endlich gehört wird.

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