Popkolumne:Schlaflos in Marseille

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Die Lage im Pop. Diesmal mit neuer Musik von "Calexico", Guy One und den "Chainsmokers" - und der Antwort auf die Frage, ob der deutsche Schlager oder der deutsche Punk nicht mehr sind, was sie womöglich ohnehin nie waren.

Von Jens-Christian Rabe

(Foto: Label)

Eine Überraschung ist etwas anderes, aber wenn es einen aus dem neuen, achten Album "The Thread That Keeps Us" (City Slang) der amerikanischen Alternative-Country Band Calexico so schön anstaubt wie eh und je, dann ist doch alles gut. Wäre "Voices In The Field" nur noch ein kleines bisschen verwischter eingespielt worden, wäre es ein hypnotischer afrikanischer Tuareg-Rock-Song. Und "Under The Wheels" ist einer der verrücktesten Indierock-Songs seit Jahren: Reggae-Off-Beat, Mariachi-Trompeten, Spoken Word und dann im Refrain auch noch elegischer, abba-esker Seventies-Fernsehrevue-Gesang, den man auf dieser Seite des Atlantiks eher aus dem Eurovision Song Contest kennt. Aber was soll man sagen? Wäre James Bond ein etwas abgewohnter Amerikaner mit lateinamerikanischen Wurzeln und klitzekleinem Tequila-Problem - "Under The Wheels" wäre ein Bond-Song!

(Foto: Label)

Die Kologo ist eine zweisaitige afrikanische Laute, mit der in Ghana unwiderstehlich drahtig-treibende Tanzmusik gespielt wird. Der Sänger und Kologo-Spieler Guy One wiederum, dessen erstes Album "#1" (Philophon) in dieser Woche erscheint, ist keiner von den afrikanischen Musikern, die sich irgendwann in den Westen aufgemacht haben. Er wurde vom deutschen Drummer und Musikentdecker Max Weissenfeldt, der schon Alben für Lana Del Rey oder Dr. John veredelte, bei sich zu Hause entdeckt, im Norden Ghanas. In Berlin haben sie dann ein Afrosoul-Album aufgenommen, das so klingt, wie man sich die Popmusik einer besseren, einigeren Welt vorstellt.

Was ist eigentlich passiert, wenn die Social-Media-Kritik schon in den mainstreamigsten Mainstream-Pop eingewandert ist? In der neuen Single "Sick Boy" des so wahnwitzig unsubtilen wie irrsinnig erfolgreichen amerikanischen Emo-EDM-Duos The Chainsmokers findet sich tatsächlich die Zeile: "How many likes is my life worth?" Wie viele Likes ist mein Leben wert? Hm. Gute Frage. Verbunden mit der Fitnessstudio-Musik der Chainsmokers, lässt sich die Frage allerdings auch fein andersherum lesen. Als Mahnung zur konsequenteren Selbstoptimierung: "Hey du! Sorg mal dafür, dass dein Leben wenigstens einen Like wert ist!" Es lebe der Pop.

Die berühmteste Jahresbestenliste des Pop ist auch die, die so spät erscheint wie keine andere. Das New Yorker Stadtmagazin Village Voice veröffentlicht seine " Pazz 'n' Jop"-Liste, für die seit 1971 jedes Jahr Hunderte Kritikerlisten ausgewertet werden, traditionell erst Ende Januar. Nun war es wieder so weit. Der Rapper Kendrick Lamar landete mit "D.A.M.N." auf dem ersten Platz der Alben des Jahres, vor SZA ("CTRL"), St. Vincent ("Massedution"), Lorde ("Melodrama") und Jason Isbell and the 400 Unit ("The Nashville Sound"). "Bodak Yellow" von Cardi B, die erste Single-Nummer-eins einer Rapperin in den amerikanischen Charts seit 20 Jahren, ist der "Pazz 'n' Jop"-Song des Jahres.

Apropos Cardi B. Die verteidigte dieser Tage ihren Freund, den Rapper Kiari Kendrell Cephus alias Offset des gefeierten Rap-Trios Migos, energisch gegen den Vorwurf, homophob zu sein. Allerdings mit einem erstaunlich bildungskritischen Argument, das die Rede von der von Trump und Co. gern beklagten linken Meinungshoheit doch arg in Frage stellt. Als er in einem Song gerappt habe "I cannot vibe with queers", so Cardi B in einem Video, dass sie über die sozialen Medien verbreitete, habe er einfach nur nicht gewusst, was er da sage. Weil: "Im Wörterbuch steht eine andere Bedeutung. (...) Heute heißt es, ,queer' sei ein böses Wort für Homosexuelle. Ich habe das Wort, ehrlich gesagt, so oder so noch nie gehört. Warum werden nicht alle Menschen darüber informiert? Viele Leute haben keine Ahnung davon, was in der LGBT-Community als richtig und was als falsch angesehen wird. (...) In unseren Schulen wurde uns nie beigebracht, dass bestimmte Worte böse Worte sind."

In unmittelbarer Nachbarschaft stehen weit oben in den deutschen Charts derzeit die neue Platte "Wir werden immer mehr" von Klubbb3 (1. Platz), dem Trio des Moderators und deutschen Schlagerkönigs Florian Silbereisen, und das neue Album "Sturm & Dreck" der Punkband Feine Sahne Fischfilet (3 . Platz) . Abgesehen davon, dass beide Bandnamen sensationell dürftig sind, verblüfft der Blick auf die Tracklisten. In einem Quiz hätte man es nämlich erstaunlich schwer, die Songtitel richtig zuzuordnen. Hier "Schlaflos in Marseille", da "Paris, Paris, Paris"; hier "Die besten Wege führ'n nach Haus", dort "Zuhause"; hier "Wir haben immer noch uns", dort "Wie eine Familie". Die Frage ist jetzt natürlich, ob der deutsche Schlager oder der deutsche Punk nicht mehr ist, was er mal war. Oder ob sie beide im Kern, wie es sich für deutsche Mainstream-Popkultur gehört, nicht ohnehin immer vor allem eins waren: bierernst.

© SZ vom 24.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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