Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Menschliche Widersprüche

Schwarze Rapper produzieren gerade den Soundtrack zu den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt in den USA, Norah Jones kann mehr als Hintergrundmusik und Jehnny Beth macht ein Soloalbum.

Von Annett Scheffel

Protest und Popkultur, das gehört in den USA seit den Sechzigern zusammen. Während Tausende gegen Polizeigewalt auf die Straße gehen, entsteht der Soundtrack dazu. Neben dem wütenden, neuen Album von Run The Jewels, seien unbedingt die guten und schmerzlich eindringlichen Singles empfohlen, die viele Hip-Hop-Künstler in den letzten Tagen veröffentlichten. Eine kurze, unvollständige Liste: Mit dem Rapper Conway The Machine, bekannt für seinen so kunstvoll wie grimmigen Flow, sitzt man in "Front Lines" (Griselda Records) vor dem Fernseher: "I just seen a video on the news I couldn't believe / (...) Cops killin' black people on camera and don't get charged/ We ain't takin' no more/ We ain't just pressin' record" - "Wir sagen nichts mehr, wir drücken nur noch auf Aufnahme." Aufwühlend ist auch der Zorn und die Wucht von "Pig Feet" (Sounds of Crenshaw), einer Zusammenarbeit des kalifornischen Produzenten Terrace Martin mit drei Rappern (Denzel Curry, Daylyt, G Perico), zu deren Strophen der Jazzmusiker Kamasi Washington ein irres Saxofon-Gewitter loslässt. Und Dua Saleh, die mit ihrem fluiden Sound zwischen Afrobeats und Future-R'n'B Hip-Hop für die neue Dekade macht. "Body Cast" (Against Giants) beginnt mit der Aufnahme einer Polizeikontrolle. Kalt und heiß ins Mark fährt die elastische Stimme der sudanesisch-amerikanische Rapperin, von der man nie genau sagen kann, ob sie knurrt, schnurrt oder beides.

An was denkt man, wenn man den Namen Norah Jones hört? An den schmeichelnden Gesang, der wahrscheinlich im Hintergrund mehrerer Millionen Dinner-Partys lief. Dabei ist die Sängerin und Pianistin vielseitiger als der Lounge-Jazz ihrer Anfangsjahre. Das zeigte sich an der Zusammenarbeit mit anderen Musikern: Herbie Hancock, Danger Mouse, Mavis Staple, OutKast oder dem coolste aller Flanellhemdenträger Jeff Tweedy, Kopf der Americana-Band Wilco. Aus dieser und anderen Songwriting-Sessions ist "Pick Me Up Off The Floor" (Blue Note) entstanden: eher Songsammlung als Album, gebunden durch Jones' Stimme, die warm und rauchig durch die Stücke schleicht. Das ist nicht unbedingt Musik für die Gegenwart, aber sehr anmutig: besonders in "How I Weep", in dem der Gesang über dezenten Cello- und Violinen-Arrangements schwebt wie Nebel über einem See.

Konfrontativer geht es bei Jehnny Beth zu. Als Sängerin der Punkband Savages fiel sie wegen ihrer Qualitäten als laute Performerin auf. Die Stücke ihres Solo-Debüts "To Love Is To Live" (Caroline) sind ähnlich scharfkantig und angriffslustig, öffnen aber einen größeren Raum: ein dunkles Fantasiereich zwischen Industrial-Rock, Synthie-Noise und Jazz-Dissonanzen. Es geht um die Liebe zu Monstern, um Sex, Wut und Verletzlichkeit - "und natürlich Schuld, weil ich katholisch erzogen wurde". Darauf folgt die geflüsterte Erotik von "Flower", ein Lovesong für eine Bikini-Bar-Kellnerin, austariert zwischen Portishead und Pattis Smith. Später schlüpft sie in "I'm The Man" getrieben vom Schlagzeug in die Rolle eines aggressiven Arschlochs, das mit seinem "harten Schwanz" prahlt. Jehnny Beth umarmt menschliche Widersprüche, bis es wehtut.

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SZ vom 10.06.2020
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