Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Segne ihre Seelen, segne ihre Finanzen

Justin Bieber huldigt auf seiner Überraschungs-EP weiter Jesus. Dazu Matthew E. White mit Lonnie Holley, Rhiannon Giddens und die Frage: Wo stünde Kollegah, wenn er dick würde?

Von Jakob Biazza

Deutschrap I: Am 1. April hat das "Hip Hop Archiv", eine Art unsortiertes Online-Panini-Album mit MCs, DJs und Artverwandtem, ein Foto gepostet: "kollegah in seiner massephase (2021)". Ein älteres Bild des Rappers - bearbeitet mit einer Fat-App. Er sah also, wie es in den Kommentaren schnell hieß, "aus wie action bronson, wenn er alkoholiker wäre". Oder, näher an Kollegahs eigenem Jargon: "Yo-yo statt cardio units / pumpt der Boss jetzt Haribo Gummis". Das Ganze war ein Aprilscherz, zeigt aber, dass der deutsche Gangsta-Rap in seiner Kapitalismushörigkeit womöglich auf eine Art kosmische Gendergerechtigkeit zusteuert: Wer das Bauch-Beine-Po-Training schleifen lässt und bei den Kohlehydraten saubeutelt, könnte auch als Alpha-Mann zukünftig kommerziell leiden ("es ist KollegahDerKlops"). Was der kluge Geschäftsmann aber natürlich antizipiert. Die Bosstransformation, eine Art wohlsortiertes Panini-Album von Menschen, die mit Kollegahs Trainingskonzept V-förmig geworden sein sollen, enthält jetzt auch: "Motivations- und Meditationsteil für mentale Stärke - denn ein Boss ist mehr als nur ein definierter Körper."

Vor ein paar Jahren stellte der Sänger und Produzent Matthew E. White sich eine Handvoll sehr fähiger Musiker ins Studio in Richmond, Virginia, um mit ihnen auszuloten, ob sich seine Songs auch anders komponieren ließen. Freier, wilder. Spontane rhythmische Assoziationen anstelle seiner gewohnten (wunderschönen) Soul-Arrangements. Etwas mehr Ekstase als bei seinem sonst so herrlich sedierten Nuschelgesang. Ergebnis: Nein, geht nicht. Wenigstens für den Moment. Also ließ er die Jams ruhen, die entstanden waren. Jetzt hat er sie wieder hervorgeholt und herausgefunden, was damals fehlte: Lonnie Holley. Der 71-jährige Künstler ist so etwas wie die Mensch gewordene freie Assoziation. Er erschafft im Hauptberuf Skulpturen aus Unrat, den er in seiner Heimatstadt Birmingham, Alabama, aufliest. Weitere Eckdaten: siebtes von 27 Kindern (er selbst hat 15), als er vier Jahre alt war, soll die Frau, die ihn informell adoptiert hatte, ihn gegen eine Flasche Whisky eingetauscht haben. Seine Gesangsparts zu "Broken Mirror: A Selfie Reflection" (Spacebomb/Secretly Distribution) soll er in nur vier Stunden aufgenommen haben und zwar weitestgehend improvisiert, nachdem er sich 20 Sekunden eines Songs hatte vorspielen lassen. Beim ersten Hören klingt das Ganze denn auch, als hätte man einen Schwarzen Jim Morrison ins All geschossen, damit er den Aliens dort zu digitalen Störgeräuschen seine Welt erklärt. Ungefähr ab dem dritten Durchlauf wird es aber eine phasenweise grandios einnehmende Predigt über das Leben an sich.

Deutschrap II: Während Kollegah sich mental auf die Birnenform vorbereitet, treibt Nura, früher Teil des Duos SIXTN, ihren weiblichen Selbstermächtigungs-Hip-Hop weiter voran. Gerade hat sie die Single "On Fleek" veröffentlicht: "Bad-bitch-Alarm / Holz vor der Hütte und der ass ist haram / Pussy so good wie das Essen deiner Mum / Ja, du darfst gerne kucken, aber fass mich nicht an". Sehr souverän reduzierter Beat mit Synthie-Tröten. Im Video tanzt so ziemlich jede Form menschlicher Schönheit herum: dick, dünn, hell, dunkel, queer, straight, geschminkt, natürlich, Jogging, Jeans, Leder, Latex. Punchline: "Ich hab Haare, Nägel, Make-Up - alles on fleek." Also: auf den Punkt.

Justin Bieber hat eine Überraschungs-EP herausgebracht, und was soll man sagen: Das Überraschendste an "Freedom" (Def Jam Recordings) ist leider doch der unangekündigte Veröffentlichungszeitpunkt. Ansonsten macht der Kanadier genau dort weiter, wo er mit "Justice", seinem jüngsten Album, vor zweieinhalb Wochen (!) aufgehört hat. Er ist weiterhin verheiratet und weiterhin gläubig, so gläubig, dass das Werk bei Streamingdiensten gleich unter "Gospel" einsortiert wird (musikalisch ist es weiterhin Bieber-Pop, wobei ein paar der Beats durchaus elegant herumhallen). Allerdings schwingt das Pendel auf "Freedom" doch noch etwas mehr Richtung Glauben. Wo auf dem Vorgänger noch manchmal unklar war, ob Bieber nun Gott oder die Angetraute besingt, scheint der Fall hier klar (oder im Hause Bieber geht etwas sehr Seltsames vor sich): "Your love's enough to wash it all away / On the third day, yeah, you rose up (...) There'll never be nobody like you / there'll never be nobody like Jesus." Kurzform: Reinigende Liebe, Auferstehung, Jesus für immer. Weitere Erkenntnisse: Der Teufel ist ein Lügner. Als Teenie-Star aufzuwachsen bringt viele Verführungen. Bieber ist davon jetzt aber frei und betet deshalb für alle, die seine Musik gerade hören: "Segne ihre Seelen, segne ihre Finanzen, segne ihre Familien."

Wer es im Spirituellen etwas erdiger will, hält sich deshalb besser an "They're Calling Me Home" (Nonesuch/Warner). Rhiannon Giddens, mit den Carolina Chocolate Drops bereits Grammy-dekoriert (Barack Obama ist auch Fan), bringt da, zusammen mit dem Multi-Instrumentalisten Francesco Turrisi, die Folk-Traditionen von Americana und keltischer Musik zusammen. Minimalistisch, tiefenentspannt, manchmal vielleicht ein bisschen ätherisch. Ansonsten: auch on fleek!

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