Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Der mächtige Dollar und seine Sklaven

Popa Chubby erfindet den agitatorischen Anti-Verschwörungsmythenanhänger-Roots-Blues-Rock. "Selig" sind zurück. Und Judith Hill rettet uns in den Sommer.

Von Jakob Biazza

Endlich mal wieder ein neues Genre! Ausgerechnet von Popa Chubby - Blues-Gitarrist und -Sänger. Eher ein Purist. Und Schwerst-Nerd. Einer von denen, die auf Spielfilmlänge darüber referieren können, warum der 1968er Twin-Reverb-Amp von Fender mit dem von 1969 - also, mit Verlaub und bei allem gebotenen Respekt - nun wirklich auf keinem Auge vergleichbar ist. Gerade wenn man ihn mit dieser einen 61er-Stratocaster in Sunburst-Finish kombiniert, die wiederum aber auch erst ihr volles Klangspektrum entwickelt hat, seit der Lack via Handballen-Geschubber, Plektrum-Gewetze und Gitarristen-Schweiß der Tourjahrzehnte abgetragen worden ist. So einer ist das. Eigentlich.

Und natürlich ist er das musikalisch auf "Tinfoil Hat" (Dixie Frog/H'Art) auch weiterhin. Aber inhaltlich macht er auf seinem "Aluhut"-Album, nun, nennen wir es mal agitatorischen Anti-Verschwörungsmythenanhänger-Roots-Blues-Rock. Ein lyrisches Ich berichtet im Titelsong also etwa, dass Dr. Fauci für den KGB arbeitet. Ein anderer segelt tiefenbekifft durch den "Cognitive Dissonance"-Reggae. Und Chubby erzählt den ganzen "Irren" (seine Worte), dass sie entweder ihr Hirn langsam wieder hochfahren sollten - oder sich eben schleichen. Ganz nach dem guten alten Sponti-Motto "Weibliche Nazis nicht schlagen ist Sexismus" übrigens völlig geschlechterübergreifend: "Baby put on your mask / don't make me have you ask (...) / Baby take off your clothes / cause you know your papa knows / that you are not one of those". Frei übersetzt: Keine Maske, kein GV. Oder, wie man in vorpandemischen Zeiten gesagt hätte: No glove, no love.

Und gleich noch ein, na gut, nicht ganz neues, aber doch sehr exklusiv bedientes Genre. Sagen wir doch einfach Als-wir-noch-jung-waren-waren-wir-die-einzige-glaubwürdige-deutsche-Grunge-Band-mit-Psychedelic-Einflüssen-und-jetzt-sind-wir eben-ein-bisschen-älter-Retro-Rock dazu - und behaupten außerdem, dass Selig sein Erfinder und weiterhin bester (womöglich aber auch einziger) Vertreter sind. Die Band um Sänger Jan Plewka und Gitarrist Christian Neander war ja so lange so gut, weil sie so lange so wenig deutsch war - auch und vor allem in der Produktion: die Gitarren immerhin mit ein paar Zigarettenbrandflecken im Sound, die Texte mit viel kindlichem Traumweltstaunen recht konsequent ein paar Meter neben der Realität unterwegs. Black Crowes auf Deutsch. Stoner Rock für eine Kultur, in der man Silbermond die Lederjacken durchgehen lässt. Dann zerschellten Selig ein bisschen an ihren Charakteren. Und als sie ein paar Jahre später zurückkamen, wurden sie, langsam, doch ein bisschen zur Rockband eines Landes, in dem man Hitparade sagt statt Charts. Und jetzt? Siehe oben. "Myriaden" (Universal Music) ist ein Album, das nicht ganz den alten Wahn hat, aber sich doch wieder dran erinnert, warum er toll war. Anders gesagt: "Und so steh ich hier am Fenster und so gerne würd' ich springen / doch dafür bin ich zu alt - ich werd' erst trinken und dann singen." Mit Anfang fünfzig ist das doch schon viel. Wenn nicht sogar alles.

Trotzdem zu glatt? Dann hätten wir noch "Zirkus" (Bader Molden Recordings/Rough Trade), das zweite gemeinsame Werk der beiden Songwriter Ernst Molden und Der Nino aus Wien. Auf der nach oben offenen Schmäh-Skala von 1 (Naschmarkt) über 5 (Gürtel) bis 10 (Zentralfriedhof) ungefähr eine 19. Außerdem der Soundtrack zu Harald Aues Film "Ein Clown. Ein Leben", der im Laufe des Jahres ins Kino kommt. Wenn es im Laufe des Jahres noch Kinos gibt. Ein paar neue Sachen, ein bisschen Great Austrian Songbook. Umgesetzt in der Hauptsache mit Gitarren, die aus eher verschatteten Ecken der Stadt heranscheppern, und Stimmen, die mehr oder weniger alles verschlucken, was sich nicht im phonetischen Spektrum zwischen a und u bewegt: "Warad i a Clown / Na hätt' i 20 Frau'n / Und dazua - ka Ruah."

Was zum Album der Woche führt: "Baby, I'm Hollywood" von Judith Hill (Regime Music Group). Brettharter, wirklich absolut humorloser Funk. Soul-Wärme, die über die Wochen bis Mitte Juli trägt. Locker. Hill hat für Michael Jackson gesungen. Prince hat 2015 ihr Debüt "Back In Time" in den Paisley Park Studios co-produziert. Album Nummer drei ist womöglich trotzdem noch besser. Man höre stellvertretend "Americana", fühle, wie das Bass-Riff erste Unruhe aufkommen lässt, wie Percussion-Geflirr sie zur Bedrohung steigert. Wie die Synthies gemeinsam mit den Gitarren herankriechen, düster, furchteinflößend wie in der ersten Stunde guter Horrorfilme, in denen das Monster nur eine vage Andeutung ist - gestaltlos noch, aber immer da. Und dann höre man auf den Text: "Spider webs got me stuck all at the borders / They all protect the mighty dollar and her slaves / Just when things are getting a little better / you question capital, your ass gon' get erased." Erschreckend gut.

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