Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Grotesk übersexualisiert

Neue Musik von den Priests, Anitta und Lena Johanna Therese Meyer-Landrut.

Von Jens-Christian Rabe

Die Post-Punk-Band Priests um Sängerin Katie Alice Greer aus der amerikanischen Hauptstadt Washington ist in Teilen der Welt berühmt dafür, dass Bandmitglieder exakt in der Pizzeria arbeiteten, aus der Hillary Clinton laut der Alt-Right-"Pizzagate"-Verschwörungstheorie einen Kinderpornoring betrieben haben sollte. Viel erfreulicher ist ihr neues Album "The Seduction Of Kansas" (Sister Polygon Records). Wenige beherrschen so formvollendet die Kunst, einen Song so lässig dahinzurotzen, dass er sich wie eine warme Decke um den Zorn anfühlt, den man so mit sich herumschleppt.

Schon über 58 Millionen Zugriffe vermerkt Youtube für das Video zur Single "Bola Rebola" der brasilianischen Popsängerin und Schauspielerin Larissa de Macedo Machado alias Anitta. Die inszeniert sich mitunter so grotesk übersexualisiert, dass sie bei ihrem Superhit "Vai malandra" schon in der Verdacht geriet, Feministin zu sein. Ganz sicher ist, dass auch "Bola Rebola" ein als Mainstream-Pop getarnter, grandios avantgardistischer Stop-and-Go-Baile-Funk-Rumpler ist. Nach allem, was davon schon zu hören war, dürfte Ihr neues Album "Kisses" allerdings leider deutlich harmloser ausfallen.

Der viel beachtete Urheberrechtsstreit von Popsänger Robin Thicke und Produzent Pharrell Williams mit den Erben Marvin Gayes um den Thicke-Hit "Blurred Lines" ging vor vier Jahren zugunsten von Gayes Erben aus. Am Ende bekamen sie mehr als fünf Millionen Dollar zugesprochen, weil es das Gericht als erwiesen ansah, dass Thicke und Williams in ihrem Song den Gaye-Hit "Got To Give It Up" plagiiert hätten. Bis heute hängt der Schatten des Urteils über der Branche. In der New York Times bekannten nun Songwriter, zwar weiter gerne Songs zu schreiben, es bei der Arbeit aber ein heftiger Dämpfer sei, immer daran denken zu müssen, womöglich verklagt zu werden. Was vor dem "Blurred Lines"-Prozess noch musikalische Hommage gewesen sei, gelte inzwischen als Plagiat. Alle Songwriter, deren Material anderswo verwendet wird, haben allerdings Grund zu großer Freude. Immer häufiger, so die New York Times, komme es inzwischen vor, dass bei Hits mit dem Erfolg auch die Liste der Urheber länger wird. Zu den drei am Anfang genannten Urhebern des letztjährigen Hits "Friends" des DJs und Produzenten Marshmellow und der Sängerin Anne-Marie seien inzwischen fünf weitere dazu gekommen. Ganz ohne Prozess.

Die Frage bei Lena Johanna Therese Meyer-Landrut, geboren 1991 in Hannover, Model, Social-Media-Influencerin, Sängerin und für die nächsten drei-, vierhundert Pop-Ewigkeiten letzte deutsche Eurovision-Sog-Contest-Gewinnerin, war ja seit ihrem Sieg bei der Pop-Europameisterschaft 2012: Wird sie für immer die deutsche Popsängerin bleiben, die mit leidlich flachem Stimmchen und deutschem Gymnasiumsenglisch eine echte Popsängerin imitiert? Bei jedem neuen Album lautete die Antwort wieder: ja. Jetzt erscheint mit "Only Love, L" (Polydor) ihre zweifellos musikalisch ambitionierteste Platte, inklusive britischem Gast-Rapper. Sie klingt, wie eine sehr ordentliche zeitgenössische Mainstream-R'n'B-Platte gerade so klingt, also ein bisschen eklektisch angestolpert und verweht, im Ganzen dann aber doch wieder genauso irre brav, wie man sich eine Sängerin mit großen Träumen aus der Popprovinz eben so vorstellt.

Die deutschen Album-Charts ergeben wie immer ein solide rätselhaftes Psychogramm unseres Landes. Ganz vorne steht das neue Album "Morgenstund" des Projekts Schiller des deutschen Ambient-Pop-Großwesirs Christopher von Deylen. Seelenlose Elektrosoße vom Allerfadesten. Könnte es sein, dass die künstlichen Intelligenzen, von denen gerade alle reden, hinterrücks sich schon soweit verselbständigt haben, dass sie wie verrückt Musik kaufen? Nun ja. Auf dem zweiten Platz folgt das neue Album des Berliner Rappers Oliver Herzog alias Herzog. Es heißt "OG mit Herz". OG für Originalgangster. Also OG wie in HerzOG. Seelenloser Syntie-Bombast, Originalgangster - und was fehlt in der deutschen Pop-Dreischrecklichkeit noch: Schlager. Den liefert diese Woche auf dem dritten Platz Roland Kaiser mit seiner neuen Platte "Alles oder Dich". Man sollte da aber weniger lange über das seltsam aufrichtige Wortspiel im Titel meditieren (statt der Liebsten nimmt er im Zweifel lieber alles). Noch schräger ist Kaisers Beitrag zur "Nein ist nein"-Sexualstrafrecht-Debatte. Im Song "Warum hast du nicht nein gesagt" singt er: "Warum hast du nicht nein gesagt / Es lag allein an dir / Mit einem Hauch von fast nichts an / Wer wollt' dich nicht verführen / Warum hast du nicht nein gesagt / Im Schatten dieser Nacht".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4393070
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 03.04.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.