Die Jahre sind an Liam Gallaghers Stimme nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte ja lange, viel länger, als es Oasis gab, die beste Rockstimme der Welt. Niemand konnte noch in der formelhaftesten Ballade seine grenzenlose Hochnäsigkeit so druckvoll und glockenklar daher rotzen. In seinen besten Momenten brachte er das Kunststück fertig, stumpfe Arroganz und blinden Größenwahn wie die unterhaltsamste Form höherer Weisheit erscheinen zu lassen: die Zukunft des Cool hieß Liam Gallagher. Bei jüngsten Auftritten klang der bald 47-Jährige allerdings nicht mehr wuchtig, sondern nasal und erschreckend saftlos. Auf dem nun erscheinenden neuen Soloalbum "Why Me? Why Not." (Warner), nur echt mit dem Punkt hinter der zweiten Frage, ist davon nicht wirklich etwas zu merken. Ein begnadeter Songwriter wird er allerdings nicht mehr und auch kein kongenialer Kurator der Ideen seiner Helfer. Mainstream-Poprock-Versuche mit Streicherleim wie "One Of Us" sind sogar richtig schlimm. Songs wie "Once" oder "Shockwave" könnte eine gute Oasis-Tribute-Band aufgenommen haben, für Hardcore-Fans geht das irgendwie in Ordnung. Wenn er sich aber wie in "The River" so roh anhört wie der Liam Gallagher der Neunziger, der sich nichts mehr wünschte, als zu klingen wie John Lennon in den Siebzigern, dann ist plötzlich doch alles wieder da. Als (neben seinem verhassten Bruder Noel) lustigster schlecht gelaunter Rock'n'Roll-Theoretiker hat er seinen Platz in der Popgeschichte ohnehin sicher, seitdem er einmal - auf Youtube gibt es einen Clip davon - einer Gruppe Kindergartenkinder erklärte, warum man unbedingt so laut furzen solle, dass es jeder hört. Lebe er für immer!
Apropos Pop und John Lennon und Weisheit. Der deutsche Musikexpress feiert gerade seinen 50. Geburtstag und legt sich aus diesem Anlass großartigerweise einen Nachdruck der Erstausgabe aus dem Juli 1969 bei. Ringo Starr, der bald wieder einmal ein überflüssiges Soloalbum veröffentlichen soll, wird darin als der "eigenartige Beatle" interviewt und - in der unnachahmlich rührend-hirnverbrannten Art des frühen deutschen Popjournalismus - gefragt, ob er nachts manchmal aufwache und einen fertigen Song im Kopf habe. Antwort Ringo, rührend-ringohaft: "O ja, manchmal fällt mir im Schlaf ein Song ein. Ich werde dann wach, denke: ,Den darfst Du nicht vergessen' und schlafe wieder ein. Am nächsten Morgen habe ich die Nummer natürlich völlig vergessen. John dagegen steht auf, wenn ihm etwas einfällt. Ich kann das nicht, ich bin meistens viel zu müde." Abgesehen davon sei im Übrigen auch der 30. Geburtstag noch lange kein Grund, sich so alt zu fühlen, wie man sei. Der große Ringo.
Brittany Howard, eigentlich Kopf und Sängerin der Alabama Shakes, hat mit "Jaime" (Sony Music) ihr erstes Soloalbum aufgenommen. Das Debüt der Alabama Shakes war vor sieben Jahren mit elegant verrumpeltem Soulbluesrock eine kleine Retropop-Sensation. Auf "Jamie" fehlen Geniestreiche dieser Art, das ist aber gar kein besonderes Problem. Die Platte ist dafür eine große, immer leicht verschleppte, warme Soul-Meditation, retro und doch nie altbacken, was auch am ganz eigenen Zauber der Stimme Howards liegt, die immer ein bisschen so klingt wie ein Frosch mit einer sehr, sehr guten Soulstimme.
Ein Zauber ganz anderer Art wäre dann noch Shirin David. Am Freitag erscheint das bereits angekündigte Debütalbum "Supersize" der Hamburger R'n'B-Sängerin und Rapperin Barbara Shirin Davidavicius alias Shirin David. Sie wurde als Youtuberin und Beauty-Gesamtkunstwerk bekannt, eine "Influencerin". Ihrem Kanal folgen mittlerweile auch schon über 2,6 Millionen Abonnenten. Allein ihre Single "Gib ihm" wurde über 43 Millionen Mal abgerufen, die Hits "Ice" und "Brillis" ebenso millionenfach. Neben Helene Fischer dürfte sie gerade der große weibliche deutsche Popstar schlechthin sein. Alles ist hier grell lackiert und prall und übergroß. Bei "Gib ihm" etwa besteht die Kulisse aus riesigen Versace- und Gucci-Einkaufstüten, das Video ist eine einzige gigantische Feier von Reichtum und Überlegenheit, so ostentativ konsumgeil und absurd sozialdarwinistisch, dass es im Grunde schon wieder ganz harte Ideologiekritik ist: "Sie bezahlen mich dafür / dass ich atme." Wie schrieb einst der große amerikanische Popkritiker Lester Bangs? "Wahre Kunst hat immer menschliche Werte besungen, aber was sollen wir machen, wenn das Äußerste, was unsere größten Kunstwerke bestätigen können, die Angst ihrer Schöpfer ist, zusammen mit dem Rest der Menschheit langsam aber sicher jeden Funken von Menschlichkeit zu verlieren?"