Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Endzeittanzmusik

Diesmal mit neuer Musik von Flying Lotus und Sebadoh - und der Antwort auf die Frage, wer die stärksten Signale aus der Vergangenheit an die Gegenwart sendet.

Von Juliane Liebert

Madonnas-Auftritt beim ESC wurde gerade vielerorts und allzu leidenschaftlich niedergemacht. Nun. Es lohnt sich, selbst reinzuhören, denn weder singt sie besonders schlecht, noch ist ihr Auftritt ein "Tiefpunkt ihrer Karriere". Tatsächlich war Madonna noch nie für ihre gute Stimme und ihr Gesangstalent berühmt. Mit anderen Worten: Die Reaktionen sagen mehr über das Publikum als die Künstlerin. Und weiter, es ist so viel Interessanteres los: Es gibt zum Beispiel ein neues Video der amerikanischen Rappers Tyler, The Creator, einen neuen Song von den Raconteurs, Jack Whites Zweitband, außerdem ein neues SZA-Video, David Byrne will an den Broadway, und Rihanna und Lady Gaga äußerten sich gegen die neuen Abtreibungsgesetze in Alabama. Die wichtigste Frage der Popwoche war allerdings: Wäscht sich Taylor Swift in der Dusche die Beine? In der Show von Ellen DeGeneres beantwortete sie die Frage mit ja, denn Rasierschaum gelte schließlich als Seife. Und sie rasiere sich die Beine fast jeden Tag. Daraus entstand eine Hygienedebatte auf Twitter. Muss man seine Beine in der Dusche waschen? Ist Rasierschaum eine Art Seife? Wozu duschen? Vielleicht klärt sich das nächste Woche.

Die Leitidee für das neue Album "Flamagra" (Warp) von Flying Lotus war eine Flamme auf einem Hügel. Dann hörte der Musiker David Lynch auf einer Party etwas erzählen - und diese Worte wurden zum Keim des Albums. Flying Lotus, bürgerlich Steven Ellison, ist als Großneffe von Alice Coltrane und der Enkelin einer Motown-Songwriterin wohl unbestreitbar Teil des schwarzen Musik-Adels. Adel verpflichtet bekanntlich, ebenso wie das musikalische Erbe von Jazz über Soul bis Hip-Hop. Flying Lotus' Kompositionen scheinen von dieser Verpflichtung durchdrungen, aber nie beschwert. Für ihn ist sie ein hyperaktives Spiel. Da können schon mal ein halbes Dutzend Genres innerhalb eines Song gewürdigt werden, bevor sie in sphärisch zerfließen. "Fire Is Coming" heißt der Song, dessen Vocals Lynch eingesprochen hat. Auch sonst gibt es viele illustre Gäste: Anderson Paak, Little Dragon oder Solange. Die Musik ist mal Vaporwave-Jazz, mal Elektro-Frickel-Rap. Verzerrte Disco-Drums, allerhand fein arrangiertes Knacken und Synthies, warm, körperlos und melancholisch wie ein Internetlagerfeuer. Das Album umfasst 27 Klangkapitel, manche nur wenig mehr als eine Minute lang, andere ausgewachsene Songs. Starke Signale aus der Vergangenheit an die unübersichtliche Gegenwart - und umgekehrt.

Es knistert gleich weiter: Der Sänger und Songwriter Andreas Spechtl, bekannt von Ja, Panik und Die Türen veröffentlicht diesen Freitag sein Album "Strategies" (Bureau B). Es beginnt mit Holzbläsern, Quietschen wie von Walgesängen. Ins Zittern auslaufenden Hallflächen. Bis dann doch noch aus allerhand Geschnatter von einem Bass ein rumpeliger Beat eingeleitet wird und der "Opening" heißende Eröffnungssong einen kurzen Rhythmusanfall mit Klatschen bekommt, bis er wieder in Walgesängen verebbt. Im zweiten Song dann Post-Punk-Kargheit, Stück für Stück mit Farbsprengseln aus dem Akustiklabor koloriert, während der Beat weiterhin stoisch klappert, bis unvermittelt eine dramatische Unterbrechung dazwischengeschaltet wird, mit Sonnenlicht aus summenden Synthesizern. Der letzte Song des Albums, "Structures", ist eigentlich mindestens fünf Songs in einem. Zwischendurch knirscht und knuspert es sehr munter, Fahrstuhlmusik für Pinguine auf dem letzten Eisberg. Endzeittanzmusik für abstrakte Romantiker, die zwar ziemlich schwarz sehen, aber in der Misere doch irgendwie noch an die Erlösung der Welt aus dem Geist von Adorno und Ian Curtis glauben.

Und eine dritte Empfehlung: Sebadoh sind ein Nebenprojekt des Dinosaur-Jr.-Bassisten Lou Barlow. Der Klang ausgefeilter als auf den klassischen frühen Alben, weniger blechern. Aber deshalb keineswegs sauber. Die Songstrukturen sind übersichtlicher, durchkomponierter. "Act Surprised" (Fire Records) vereint 15 lärmige Indiepunkstücke von solider Qualität, die keine musikalische Handwerkskammer als Meisterstück zurückweisen könnte. Leider bedeutet der Begriff Indie nichts mehr. Was der Musik Unrecht tut, wenn man sich die Indie-Originale aus den späten Achtzigern oder frühen Neunzigern anhört - das ganze hochbegabte schmutzige DIY-Soundgebastel, aus dem dann auch Grunge spross. Das neue Sebadoh-Album trägt diesen Geist weiter und gibt einen Eindruck davon, was an dieser Musik noch immer toll ist.

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SZ vom 22.05.2019
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