Popkolumne:Der Irrsinn der Arbeit

Diesmal mit neuer Musik von "The Divine Comedy", "Yeasayer" und Hannah Rodgers alias Pixx, Eindrücken vom Primavera Sound - sowie der Antwort auf die Frage, welchen Pop-Pionier die Welt bitte nicht schon wieder verschrecken sollte.

Von Annett Scheffel

Popkolumne: Jai Paul.

Jai Paul.

(Foto: Beggars Group)

Vor sieben Jahren wurde der zurückgezogen lebende Londoner Jai Paul mit nur zwei Singles unverhofft zu einem der einflussreichsten Produzenten unserer Dekade: "BTSTU" und "Jasmine" waren wie trojanische Pferde, auf den ersten Blick geschmeidige, elegante Songs mit Falsett-Gesang, bei genauerem Hinhören Pionierarbeiten einer neuen Art von elektronischer Popmusik, so clever texturiert und ungewöhnlich im Zusammenspiel disparater Elemente, dass sich daraus bald ein neues Genre (Post-Dubstep) mit neuen Stars wie James Blake oder Jamie xx entwickelte. Irgendwann landete dann eine Arbeitsversion eines geplanten Albums Pauls im Internet, was Jai Paul scheinbar so schwer traumatisierte, dass er erst mal überhaupt keine Musik mehr veröffentlichte - bis zum vergangenen Wochenende. Seitdem gibt es zwei neue Songs, erschienen als Doppel-B-Seite: "Do You Love Her Now" und "He" (XL) klingen nach geheimnisvollem, leichtfüßigem Elektro-Soul, der zurückhaltend, aber immer unberechenbar ist, der immer wieder die Gangart wechselt, mal in Richtung Soft-Rock schippert, mal in Richtung R'n'B-Jam tänzelt. Besonders in "He" scheint die Schwerkraft zwischen den Funk-Gitarren, gehauchten Vocals, opulenten Tonartwechseln und flachen Beat-Drops so wunderbar verzögert, dass man nur hoffen kann, die gierige Welt möge den scheuen Meister diesmal nicht gleich wieder verschrecken.

Nicht zu entmutigen ist dagegen Neil Hannon. Der Kammer-Pop auf dem neuen Album seiner auch schon 30 Jahre alten Band The Divine Comedy ist wie immer klug und einfallsreich, aber ziemlich unzeitgemäß. Wahrscheinlich ist es sogar Absicht und "Office Politics" (PIAS) doch als kleine Abhandlung über Entfremdung in der Arbeitswelt angelegt: Die Songs führen aus dem Nachkriegsengland in die Schulterpolsterwelt der späten Achtziger und unsere Zeit der technologischen Veränderung. Vertont ist das wie gewohnt vielseitig und üppig, und erinnert mal an den Synthie-Pop der Achtziger, mal an die England-Beobachtungen von Blur und mal an den Humor der Serie "The Office". Zeitgemäße Popmusik klingt anders, aber immerhin erfährt man viel aus ihrem Fußnotenbereich. In "Philip And Steve's Furniture Removal Company" zum Beispiel etwas über die Möbelspedition, die die beiden einflussreichen Minimal-Komponisten Reich und Glass in den Sechzigern betrieben. Darüber hinaus lernt man, was für ein Irrsinn Arbeit ist.

Wie es sich anfühlt, das Ohr ganz nah an den Nerv der Zeit zu legen, das konnte man am vergangenen Wochenende in Barcelona erleben: Beim Primavera Sound Festival waren zum ersten Mal mehr als die Hälfte der gebuchten Acts Frauen oder Genderqueer-Künstler. Ja, das geht. Und es geht sogar sehr gut. Zumal die entscheidenden Impulse der Popmusik der letzten Jahre ohnehin verstärkt von Musikerinnen ausgingen. Einige davon traten in Barcelona in den allerbesten Zeitfenstern auf: Solange, Rosalía, Lizzo, Courtney Barnett, Sophie, Helena Hauff, FKA Twigs. Wie aufregend und euphorisierend diese Shows waren, merkte man ironischerweise erst, wenn man an einer Bühne mit einer weißen Männer-Rockband vorbeikam, Guided By Voices zum Beispiel, Interpol oder Primal Scream. Die spielten ihre alten und, ja, immer noch guten Hits und kamen einem plötzlich vor wie seltsame Besucher aus einem muffigen Paralleluniversum. "Small Mercies" (4AD) heißt das neue Album von Pixx. Dahinter steckt die 23-jährige britische Sängerin Hannah Rodgers, die 2017 ein stilsicheres Debüt ablieferte: "The Age of Anxiety" war halb Elektro-Pop, halb nebliger Trip-Hop. Auch auf ihrer zweiten Platte bewegt sie sich zwischen den Stilen, nur das Selbstbewusstsein ist größer, die Synthesizer sind lauter und die Texturen der Songs widerborstiger geworden. Da knarzen auch mal Pixies-Gitarren. So punktgenau in der Mitte von Dream-Pop und Alternative-Rock muss man erst mal landen. Neue Musik gibt es auch aus der Weirdo-Werkstatt namens Yeasayer. Die experimentelle Rockband aus Brooklyn entfernt sich auf ihrem fünften Album "Erotic Reruns" (Yeasayer/Cargo) noch ein Stück weiter von ihren Worldbeat-Anfängen und scheint wieder alles auf einmal zu verwursten oder verballhornen: Psychedelic, Indie-Rock, Giftpilz-Beats, sogar 80s-Disco. Alles ganz schön anstrengend also. Kann man natürlich gut finden. Oder man hört die Jai-Paul-Singles aus dem ersten Abschnitt einfach noch mal von vorn.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: