Süddeutsche Zeitung

Pop und Einwanderung:Neue Welle

Mit den Migranten kommen auch neue Popkulturen nach Europa und Deutschland - Hip-Hop aus dem Senegal, Pop aus Kurdistan, Techno aus Syrien. Das könnte viel verändern.

Von Jonathan Fischer

Fresh, also neu, aufregend und unerwartet: So definierte sich mal der Kern des Hip-Hop. Heute aber gilt Hip-Hop - neben Country - als eines der konservativsten Genres überhaupt. Aber war Hip-Hop denn nicht seit den frühen Charterfolgen Anfang der Achtzigerjahre weltweit expandiert? Und war es nicht genau der Clash der Kulturen - genauer gesagt: das Remix-Fieber karibischer Immigranten in der Bronx -, der das Genre zur größten Pop-Revolution der Gegenwart machte?

Nun bringt die Flüchtlingswelle ganz neue Einflüsse nach Europa. Auch nach Deutschland. Und gerade weil Hip-Hop musikalisch auf der Verarbeitung von Material aufbaut, das schon existiert, war er für Einflüsse von außen empfänglicher als jede andere Form der Popmusik. Er veränderte sich bei seiner weltweiten Ausbreitung vor allem inhaltlich in anderen Ländern meist viel aufregender als in Amerika oder auch Europa. Und wenn er dort in den immer gleichen Gangstergeschichten und Konsumprahlereien stagnierte, lag das auch daran, dass viele nicht realisierten, dass die spannendsten Geschichten heute in unmittelbarer Nachbarschaft spielen. Und nicht am Swimmingpool irgendeines Hip-Hop-Stars. Gerade weil jede Welle von Einwanderern neue Geschichten mitbringt. Oder kreiert. In Frankreich kann man das schon hören.

Über 100 Millionen Videoklicks für einen Pizzalieferanten - der steht nun in einer Liga mit Stars

Das sind Geschichten, wie sie MHD erzählt. Ohne Plattenfirma hat der 21-jährige französische Rapper online eine gewaltige Fangemeinde um sich versammelt - ganz einfach, weil er etwas nie Dagewesenes produziert, einen afrikanisch-migrantischen Kontext ins Spiel bringt, aus dem sich Hip-Hop noch einmal ganz neu erfinden lässt.

MHD heißt eigentlich Mohamed Sylla, lebt bei seinen senegalesisch-guineischen Eltern im 19. Arrondissement in Paris, und hat bis vor Kurzem als Pizzalieferant gearbeitet. Seit ein paar Monaten sprengt er mit seinem "Afro-Trap" - einer Mischung aus Südstaaten-Hip-Hop und afrikanischen Musikstilen - Netzrekorde. Allein sein "Afro-Trap Part 3" alias "Champions League" hat schon 34 Millionen Klicks gesammelt. Ein Billigvideo im Selfie-Stil: Zuerst sieht man drei schwarze Teenager auf einem Mofa den Bürgersteig entlangrollen. Dann kommt der Rapper ins Bild. Er tänzelt zusammen mit seinen Freunden daneben her, alle haben Handys in der Hand, tragen Fußball-Jerseys von Bayern München und Paris St. Germain: "Fuck, wenn du nicht zu meinem Team gehörst. Wir schlagen alle in der Champions League." MHD unterstreicht jede seiner Zeilen mit einer resoluten Handbewegung. Und alle machen mit. Ein großer übermütiger Straßentanz - Fußball und Hip-Hop als Anlass, das Leben und sich selbst zu feiern.

Mit seinen durchweg genau so schlicht produzierten Videos - der Einfachheit halber einfach "Afro-Trap Part 1" bis "Afro Trap Part 8" betitelt - kommt der Immigranten-Sohn aus der Pariser Vorstadt inzwischen auf insgesamt über 100 Millionen Klicks. Damit spielt er in der Liga von amerikanischen Superstars wie Kanye West, Jay-Z und Lil' Wayne. Und das obwohl - oder gerade - weil er nicht auf ein herkömmliches Pop-Publikum angewiesen ist. Auch wenn das wohl folgen wird, denn die Plattenfirma Capitol hat ihn gerade unter Vertrag genommen.

Es sind hauptsächlich andere Migranten und Migrantenkinder, die sich in seinen Songs über Fußball, das Leben in der Vorstadt oder neue Tänze finden. Sich selbst beim Rappen filmen, ein paar neue Moves ausprobieren und den Clip für die Freunde im Netz posten, tun sie schließlich alle. Wichtiger noch: Die jungen afrikanischen Migranten, die zu Hause die Musik ihrer Eltern hören, die mit nigerianischem Afropop, Coupé Decalé von der Elfenbeinküste oder kongolesischem Soukous aufgewachsen sind, interessiert die Hip-Hop-Orthodoxie aus Amerika nur noch wenig. So entstehen ganz neue Freiheiten.

In Frankreich wie in Deutschland gehörten Migrantenkinder einst zu den ersten Adepten der neuen Straßenkultur Hip-Hop. Nur dass französische Rapper und Breakdancer dank einer relativ großen afrikanischen Population vor Ort schon früh Brücken zum schwarzen Kontinent bauten. Ein Import-Export-Geschäft: So veröffentlichten Mitte der Achtzigerjahre die Abidjan City Breakers eines der ersten Hip-Hop-Alben Afrikas, andere Pioniere nannten sich die Bamako City Breakers oder die Dakar City Breakers.

Auf der anderen Seite stieg MC Solaar, ein in Senegal geborener Sohn tschadischer Eltern, zum ersten Hip-Hop-Superstar Frankreichs auf. Auch wenn man ihm seine Wurzeln nicht unbedingt anhörte: In seinem Fahrwasser bekam französischer Rap einen multi-ethnischen Anstrich, fanden Jugendliche, deren Familien aus der Karibik, aus Afrika und dem Maghreb emigriert waren, in Hip-Hop-Gruppen zusammen. Von der alten Heimat abgeschnitten, in Frankreich diskriminiert, übersetzten sie den Ghetto-Pessimismus der amerikanischen Kollegen.

Doch die Banlieue-Gangster behielten nicht das letzte Wort. Rapper wie der Malier Mokobe oder der Franco-Kongolese Baloji entwarfen eine Welt jenseits der Wut: optimistischer, lockerer, stolz auf die eigenen Wurzeln. Sie luden Popmusiker aus Afrika für ihre Platten ein und sahen ihre Migrationsgeschichte vor allem als Chance: Wenn Kanye West Otis Redding und Nina Simone verarbeitete, warum sollten sie nicht genauso selbstverständlich Grand Kalle und Bassekou Kouyate sampeln?

Neue Sounds für Deutschland: Hip-Hop aus Somalia, Pop aus Kurdistan, Techno aus Syrien

Die neue Generation von Migranten-Jugendlichen kreiert aus den Versatzstücken ihrer Familiengeschichte im Do-it-yourself-Verfahren ihren ureigenen Sound: "Es fing letztes Jahr in den Sommerferien an", erklärt Mohamed, "ich improvisierte einen Rap über einem Instrumental der nigerianischen Band P-Square und filmte mich dabei. Dann lud ich das Ganze auf einige soziale Netzwerke hoch." Afro-Trap Part 1: Den Namen habe er gewählt, weil er seine Reime meist über Trap-Beats, eine Hip-Hop-Variante aus dem amerikanischen Süden, schreibe, bevor er sie mit Afro-Samples und Dub-Effekten unterlege.

Mohamed erwartete sich nichts. Fünf Tage später war er eine Berühmtheit. Der Clip gehörte zu den meistgeklickten Videos in Frankreich. Bald machten die Kinder auf der Straße seine Handzeichen nach, französische Schülerdemos gegen das neue Arbeitsgesetz skandierten sein "Fais le mouv", und selbst die Fußballer von Paris Saint-Germain fingen an, nach jedem Tor MHDs "Moula" zu tanzen und verbreiteten Bilder davon über ihren offiziellen Twitter-Account. Faszinierend ist dabei der ureigene Slang, den der Rapper mit seiner Crew entwickelt hat. Ein Mix aus Straßen-Französisch, Bambara-Worten aus Mali und beninischen Fongbe-Phrasen.

So ähnlich könnte es bald auch hierzulande klingen. Die jungen Flüchtlinge, die gerade aus afrikanischen Ländern wie Gambia, Nigeria oder Somalia nach Deutschland kommen, bringen aufregende lokale Hip-Hop-Spielarten mit. Und auch die jungen Syrer und Afghanen haben ihre eigenen Sounds im Gepäck: Aus ihren Smartphones tönen mit Saz, Ghichak-Fideln und orientalischen Streichern angereicherte Reggaeton-Rhythmen. Kurdische Rapper sampeln Arabesk-Pop, rüsten dessen Schmachtgesänge für die Hip-Hop-Generation auf, während syrische DJs Techno-Beats mit Nomadentänzen mixen.

Allen gemein ist eine Ästhetik, bei der das gemeinsame Feiern mitsamt den Gruppenritualen im Zentrum steht. Eine malische oder afghanische Party ohne Kreistanz? Undenkbar! Allein schon wegen der jungen Demografie ihrer Herkunftsländer sind diese Migranten Vorboten einer Zukunft, in der Hip-Hop und irgendwann auch der Pop mehr und mehr nichtwestliche Elemente aufnehmen wird. Und das ist gut so. Durch die neue Vielfalt gewinnt auch die europäische und die deutsche Popkultur: Hip-Hop klingt wieder fresh.

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Quelle:
SZ vom 04.06.2016
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